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Das Geheime Vermächtnis

Das Geheime Vermächtnis

Titel: Das Geheime Vermächtnis
Autoren: Katherine Webb
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hinab und versuchte, den Grund zu erreichen wie Dinny, doch ich schaffte es nie. Jedes Mal, wenn ich erneut durch die Oberfläche brach, hörte ich Beths schrille Drohungen. Ich schoss nach jedem Versuch wieder in die Höhe, wie ein Korken. Das war wohl der Auftrieb des Babyspecks an meinen dicken Beinen, meinem runden Bauch. Sie ließ mich danach Runde um Runde durch den Garten laufen, ehe ich mich dem Haus wieder nähern durfte, damit ich trocken und warm hineinging statt blass und mit klappernden Zähnen, was einer Erklärung bedurft hätte.
    Hinter mir sind durch die kahlen Bäume hier und da ferne Blicke aufs Haus zu erhaschen. Das ist mir vorher noch nie aufgefallen. Durch sommergrüne Bäume kann man es nicht sehen, aber jetzt beobachtet es mich, es wartet. Ich mache mir Sorgen, weil Beth allein dort drin ist, aber ich will noch nicht zurück. Ich gehe weiter und klettere über das Tor auf die Wiese draußen. Diese Wiese, und noch eine, und dann ist man in den Downs – den hügeligen Kreideformationen von Wiltshire, geprägt hier und da von der Vorgeschichte, an manchen Stellen auch von Panzern, Manövern und Zielübungen. Am Horizont ruht der Grabhügel, der dem Dorf seinen Namen gegeben hat, das bronzezeitliche Hügelgrab eines Königs, dessen Ruhm und Name längst in Vergessenheit geraten sind: ein niedriger, schmaler Buckel, etwa so lang wie zwei Autos und an einem Ende offen. Im Sommer ruht dieser König unter wilder Gerste, gelbem Jakobskraut und blauen Vergissmeinnicht und lauscht dem endlosen, satten Glucksen der Lerchen. Jetzt findet man jedoch nur noch mehr verdorrtes Gras, abgestorbene Disteln und eine leere Chipstüte.
    Am Hügelgrab bleibe ich stehen und schaue auf das Dorf hinab, um nach dem Aufstieg wieder zu Atem zu kommen. Unten regt sich nicht viel, ein paar fransig aufsteigende Rauchsäulen aus Schornsteinen, ein paar wetterfest ver mummte Dorfbewohner, die ihre Hunde ausführen, auf dem Weg zum Briefkasten. Von diesem einsamen Hügel aus scheint es dennoch der Mittelpunkt des Universums zu sein. Dies volle Dorf! Coleridge geht mir plötzlich durch den Kopf. Seine reflektierenden Blankversgedichte habe ich gerade mit meiner zehnten Klasse durchgenommen. Ich habe versucht, sie dazu zu bringen, dass sie langsam genug lesen, um die Worte zu spüren, die Bilder in sich aufzunehmen; aber sie gehen flüchtig darüber hinweg, schnatternd wie die Affen.
    Die Luft ist beißend kalt hier oben – sie teilt sich um mich wie eine Strömungswelle. Meine Zehen sind schon taub, weil meine Schuhe klatschnass sind. Ich weiß, dass im Haus zehn oder zwanzig Paar Gummistiefel herumstehen. Unten im Keller, ordentlich aufgereiht und mit Spinnweben drapiert. Ich habe eine scheußliche Erinnerung daran, wie ich einmal einen Stiefel nicht ausschüttelte, ehe ich mit dem nackten Fuß hineinfuhr, und das Krabbeln eines kleinen Bewohners darin spürte. Ich bin aus der Übung, was das Landleben betrifft, nicht ausgerüstet für unterschiedliches Terrain, für Boden, der nicht bearbeitet wurde, um mir die größtmögliche Bequemlichkeit zu bieten. Und dennoch: Wenn mich jemand danach fragte, würde ich sagen, dass ich hier aufgewachsen bin. Diese frühen Sommer, die in meiner Erinnerung so lang sind und mir noch deutlich vor Augen stehen, erheben sich wie Inseln aus einem Meer von Schultagen und verregneten Wochenenden, die so verschwommen ineinander übergehen, dass man sich nicht an sie erinnern kann.
    Am Eingang zum Hügelgrab erzeugt der Wind ein leises Stöhnen. Ich springe mit beiden Füßen auf einmal die steinerne Stufe hinab und erschrecke ein Mädchen im Inneren. Die junge Frau fährt mit einem Keuchen hoch und stößt sich den Kopf an der niedrigen Decke, krümmt sich wieder nach vorn und hält sich mit beiden Händen den Schädel.
    »Oh, verdammt! Tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken … Ich wusste nicht, dass jemand hier ist.« Ich lächle. Das schwache Licht aus dem Eingang fällt auf sie, auf goldblonde Ringellocken, mit einem türkisfarbenen Tuch zurückgebunden, ein junges Gesicht und ein eigenartig unförmiger Körper, in lange Chiffonröcke und eine Häkelbluse gehüllt. Sie blickt mit zusammengekniffenen Augen zu mir hoch – ich muss ihr als Silhouette erscheinen, als schwarzer Umriss vor dem Himmel draußen. »Ist alles in Ordnung?« Sie antwortet mir nicht. Kleine, bunte Blumensträußchen stecken in den Spalten der Wand vor ihr. Die abgeschnittenen Stängel sind ordentlich mit Band
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