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Das Geheime Vermächtnis

Das Geheime Vermächtnis

Titel: Das Geheime Vermächtnis
Autoren: Katherine Webb
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noch klein waren. Es war weißblond wie das Haar von Engeln, von jungen Wikingern. Doch die Reinheit dieser Farbe hatte sich mit den Jahren in dieses langweilige Mausbraun verwandelt. Ich färbe mir jetzt die Haare, damit sie lebendiger wirken. Inzwischen sehen wir immer weniger wie Schwestern aus. Ich erinnere mich, wie Beth und Dinny verschwörerisch flüsterten und die Köpfe zusammensteckten: sein Schopf so dunkel, ihrer so hell. Damals war ich ganz krank vor Eifersucht, und jetzt erscheinen ihre Köpfe vor meinem geistigen Auge wie Yin und Yang. Pech und Schwefel.
    Die Fenster des Hauses sind leer und zeigen dunkle Spiegelbilder der kahlen Bäume ringsum. Diese Bäume kommen mir jetzt größer vor, und sie neigen sich zu dicht ans Haus heran. Hier muss ausgeholzt werden. Denke ich etwa daran, was hier zu tun ist, was man verbessern könnte? Stelle ich mir vor, hier zu leben? Das Haus gehört jetzt uns, alle zwölf Schlafzimmer, die hohen Decken, die prächtige Treppe, die Kellerräume, deren Steinböden von dienstbaren Füßen glatt geschliffen sind. Alles gehört uns, aber nur, wenn wir hier einziehen und wohnen bleiben. Das hat Meredith schon immer gewollt. Meredith – unsere Großmutter mit ihrer Boshaftigkeit und ihren knochigen Händen, zu Fäusten geballt. Wenn es nach ihr gegangen wäre, wäre meine Mutter mit uns allen schon vor Jahren hier eingezogen, um ihr beim Sterben zuzuschauen. Aber unsere Mutter weigerte sich, wurde prompt enterbt, und wir setzten unser fröhliches vorstädtisches Leben in Reading fort. Wenn wir nicht hier einziehen, wird das Herrenhaus verkauft und der Erlös wohltätigen Zwecken gestiftet. Meredith, die im Tod zur Philanthropin wurde – verkehrte Welt. Jetzt gehört das Haus also uns, aber nur für kurze Zeit, denn ich glaube nicht, dass wir es lange ertragen können, hier zu wohnen.
    Dafür gibt es einen Grund. Wenn ich versuche, ihn direkt ins Auge zu fassen, löst er sich auf wie Nebel. Nur ein Name taucht daraus auf: Henry. Der Junge, der verschwand, der einfach nicht mehr da war. Was ich jetzt denke, als mir vom Blick hinauf in die kahlen Zweige schwindlig wird … Ich glaube, ich weiß es. Ich weiß, warum wir hier nicht leben können, warum es schon bemerkenswert ist, dass wir überhaupt gekommen sind. Ich weiß es. Ich weiß, warum Beth jetzt nicht einmal aus dem Auto steigen will. Ich frage mich, ob ich ihr gut zureden muss, um sie da herauszubekommen, so, wie man ihr zureden muss, damit sie etwas isst. Auf der Erde zwischen mir und dem Haus wächst keine einzige Pflanze – es ist zu schattig. Vielleicht ist der Boden auch verseucht. Es riecht nach Erde und Fäulnis, nach samtigem Pilz. Humus , das Wort fällt mir plötzlich aus dem Naturkundeunterricht vor vielen Jahren ein. Tausend kleine Insektenmäuler, die kauen und arbeiten und den Boden verdauen. Ein Augenblick der Stille entsteht. Der Motor ist still, die Bäume und das Haus sind still, und alles dazwischen. Hastig setze ich mich wieder ins Auto.
    Beth starrt auf ihre Hände hinab. Ich glaube, sie hat noch nicht einmal aufgeblickt und unser Haus angesehen. Plötzlich kommen mir Zweifel, ob es nicht doch ein Fehler war, sie hierherzubringen. Mit einem Mal fürchte ich, dass ich es zu lange aufgeschoben habe, und diese Angst dreht sich in meinen Eingeweiden. An ihrem Hals stehen Sehnen hervor wie dünne Seile, und sie ist irgendwie eckig in den Beifahrersitz gefaltet, ganz Kanten und Winkel. So dünn ist sie jetzt, und sie sieht so zerbrechlich aus. Immer noch meine Schwester, aber sehr verändert. Da ist etwas in ihrem Inneren, das ich nicht zu fassen bekommen, das ich nicht verstehen kann. Sie hat Dinge getan, die ich nicht begreife, und Gedanken gehabt, die ich mir nicht vorstellen kann. Ihre Augen, der Blick starr auf ein Knie gerichtet, sind glasig und weit aufgerissen. Maxwell will, dass sie wieder in die Klinik geht. Das hat er mir vor zwei Tagen am Telefon gesagt, und ich habe ihm fast den Kopf dafür abgerissen, dass er das auch nur vorschlägt. Aber ich verhalte mich in ihrer Gegenwart jetzt anders, sosehr ich mich auch bemühe, das nicht zu tun. Und ein Teil von mir hasst sie dafür. Sie ist meine große Schwester. Sie sollte stärker sein als ich. Ich reibe sacht ihren Arm und schaue sie aufmunternd an. »Wollen wir reingehen? Ich könnte einen Drink gebrauchen.« Meine Stimme klingt in dem beengten Raum sehr laut. Ich stelle mir Merediths kristallene Karaffen vor, die im Salon aufgereiht sind. Als
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