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Das Geheime Vermächtnis

Das Geheime Vermächtnis

Titel: Das Geheime Vermächtnis
Autoren: Katherine Webb
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Fingerspitzen darüber. Der Stapel auf ihrem Knie ist nicht so gerade und ordentlich wie der in der Schublade. Was sie da tut, ist sinnlos. Das ist eines von diesen Dingen, die sie tut und die ich nicht verstehen kann.
    »Ich gehe spazieren«, verkünde ich, richte mich mit steifen Knien auf und schlucke meine Gereiztheit herunter. Beth fährt zusammen, als hätte sie vergessen, dass ich da bin.
    »Wo gehst du hin?«
    »Spazieren, habe ich doch gerade gesagt. Ich brauche ein bisschen frische Luft.«
    »Aber bleib nicht so lange«, sagt Beth. Das macht sie auch manchmal – sie spricht mit mir wie mit einem eigensinnigen Kind, so, als könnte ich davonlaufen. Ich seufze.
    »Nein. Bin in zwanzig Minuten wieder da. Will mir nur die Beine vertreten.« Ich glaube, sie weiß, wohin ich gehe.
    Ich lasse mich einfach von meinen Füßen tragen. Der frühere Rasen ist zerrupft und verklumpt. Kabbelige Wellen aus geknicktem braunem Gras durchnässen meine Schuhe. Das war früher alles so gepflegt, so schön. Ich ertappe mich bei dem dummen Gedanken, dass der Garten seit Merediths Tod ungehindert vor sich hin wuchert. Aber das ist lächerlich. Sie ist erst vor einem Monat gestorben, und der Garten ist offensichtlich schon seit Jahren vernachlässigt worden. Es scheint, als hätten wir auch sie vernachlässigt. Ich habe keine Ahnung, wie sie vor ihrem Tod hier zurechtgekommen ist – wenn sie denn zurechtgekommen ist. Sie war einfach da, irgendwo in meinem Hinterkopf. Mum und Dad haben sie besucht, etwa einmal im Jahr. Beth und ich waren schon ewig nicht mehr hier. Aber unsere Abwesenheit ging irgendwie in Ordnung, denke ich. Unser Widerstand wurde nicht allzu sehr herausgefordert, nie wurden wir dazu gedrängt, herzukommen. Vielleicht hätte sie uns gern gesehen, vielleicht auch nicht. Das war bei Meredith schwer zu sagen. Sie war keine liebe Großmutter, sie war nicht einmal mütterlich. Als unsere Mutter noch klein war, hatte auch unsere Urgroßmutter Caroline hier gelebt. Eine weitere Quelle von Ungemach. Unsere Mutter war ausgezogen, sobald sie konnte. Merediths Tod kam plötzlich, ein Schlaganfall. An einem Tag noch alterslos – oder vielmehr eine alte Frau, solange ich zurückdenken kann –, am nächsten Tag nicht mehr da. Zu letzt habe ich sie bei Mums und Dads Silberhochzeit gesehen, nicht hier, sondern in einem überheizten Hotel mit dicken Teppichen. Sie thronte wie eine Königin an ihrem Tisch, ließ den kalten, harten Blick durch den Raum schwei fen, scharfe Augen über geschürzten Lippen.
    Da ist der Teich. Wo er immer war, aber er sieht in Winterfarben so anders aus. Er liegt in der Ecke eines ganz kurz abgegrasten Rasenstücks. Die Wiese zieht sich nach Osten hin, westlich davon ist der Wald. Die Bäume haben immer fleckiges grünes Licht auf die Wasseroberfläche gezaubert, eine kühle Farbe, die von Zweigen herrührte, auf denen Vögel flatterten und sangen. Jetzt sind sie kahl, besetzt nur von lauten Saatkrähen, die keckern und lärmen. An heißen Julitagen war er unwiderstehlich, dieser Grundwasserweiher, doch unter dem trüben Himmel wirkt er flach wie eine Pfütze. Wolken jagen darüber hinweg. Ich weiß, dass er nicht flach ist. Als wir noch klein waren, war er eingezäunt, aber nur mit ein paar Reihen Stacheldraht, die für entschlossene Kinder keinerlei Hindernis darstellten. Der Teich war die zerkratzten Schienbeine und die ausgezupften Haare allemal wert. Er sah tief aus, aber Dinny sagte, er sei sogar noch tiefer, als man sehen könne. Er sagte, das blaue Wasser täusche das Auge, und ich glaubte ihm nicht, bis er eines Tages hi-nabtauchte. Er holte mächtig viel Luft und strampelte mit den Füßen, trat sich in die Tiefe hinab. Ich sah zu, wie sein gebräunter Körper Wellen schlug, sah zu, wie er immer weiter mit den Beinen trat, obwohl es den Anschein hatte, als hätte er den kalkigen Grund längst erreichen müssen. Er tauchte japsend wieder auf und fand mich hingerissen und fasziniert am Ufer.
    Der Teich speist den Bach, der durch das Dorf Barrow Storton fließt, unterhalb des Herrenhauses an dem breiten Hügel gelegen. Dieser Teich ist fest in meiner Erinnerung verankert; er scheint meine gesamte Kindheit zu beherrschen. Ich kann Beth an seinem Rand entlangwaten sehen, als ich zum ersten Mal darin schwamm. Sie ging im knöcheltiefen Wasser auf und ab, nervös, weil sie die Älteste war, und das Ufer war steil, und wenn ich ertrinken würde, so wäre das ihre Schuld. Ich tauchte immer wieder
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