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Das geheime Kind

Das geheime Kind

Titel: Das geheime Kind
Autoren: Thomas Kastura
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Wikinger zogen ab. Wenn nicht, eroberten die Wikinger die Burg und sperrten die Ritter ins Verlies. Manchmal kam es vor, dass die Wikinger einen Ritter zur Abschreckung töteten. Dann landete der Ritter im Müll. Kämpfe forderten Opfer.
     
    »FÜR MEIN GEFÜHL ist das Jackett zu lang.«
    »Nein. Das Jackett ist nicht zu lang.«
    Raupach blickte erneut in den Spiegel. »Es ist zu lang.«
    Heide trat einen Schritt zurück. »Das Jackett ist genau richtig.«
    »Wirklich?«
    »Es streckt dich.«
    Er straffte den Rücken. Drehte sich, nach links, nach rechts. Sah an sich herab. »Eindeutig zu lang.«
    »Lass es kürzen, wenn’s dir nicht gefällt«, schlug sie vor.
    »Dann verliert es seinen Schnitt. Man kann ein Jackett nicht einfach abschneiden wie eine Hose.«
    »Aber es sind doch nur ein paar Zentimeter.«
    »Nein. Wenn es zu lang ist …«
    »Ich finde es elegant.«
    »Damit sehe ich aus wie ein Butler«, widersprach er.
    »Hast du was gegen Butler?«
    »Wenn ich einen Verdächtigen zur Vernehmung einbestelle, sage ich ja auch nicht: Es ist angerichtet.« Raupach deutete auf den Saum und schüttelte den Kopf. »Zu lang.«
    »Wie du meinst«, sagte Heide. Sie half ihm aus dem Jackett und gab es einem Verkäufer.
    Inzwischen leisteten ihnen drei Angestellte eines Kölner Herrenausstatters Gesellschaft. Wie der stumme Chor in einer griechischen Tragödie verfolgten sie das Schauspiel. Es war Freitag, da hatten die meisten Kunden wenig Zeit – abgesehen von diesen beiden. Die Gründlichkeit, mit der sie die Ware prüften, die Nähte, das Innenfutter, die Verarbeitung, grenzte an Misstrauen.
    Heide und Raupach ließen sich von den gequälten Mienen nicht im Geringsten beeindrucken.
    Der Anzug passte nicht. Keiner passte. Raupach hatte eine ganze Reihe anprobiert, bei zehn hatte Heide mit dem Zählen aufgehört. Er brauchte unbedingt einen neuen. Mit seinem alten dunkelblauen konnte er nicht mehr unter Menschen gehen. Überall durchgescheuerte Stellen, an den Schultern, den Ellbogen. Die Hose war an manchen Stellen dünn wie Japanpapier und glänzte verdächtig »Habe ich überhaupt die Figur für den italienischen Schnitt?«, fragte Raupach plötzlich.
    »Damit sehen Sie am besten aus«, versuchte es der Abteilungsleiter.
    »Eigentlich bevorzuge ich den englischen Schnitt.«
    »Der wird selten verlangt.«
    »Wo sind wir hier?«, fragte Heide. »In einem Resteladen? Haben Sie keine größere Auswahl?«
    Der Mann wies auf Kleiderständeralleen, die sich ins Unendliche dehnten. »Normalerweise genügt das unseren Kunden.« Er wandte sich an Heide: »Möchten Sie sich in unserer Damenabteilung umsehen? Vielleicht finden Sie etwas Hübsches?«
    Das war ein Fehler. Heide trug fast ausschließlich schwarz. Meistens etwas Praktisches. Einschüchterndes. Gelegentlich etwas Umwerfendes. Aber ganz bestimmt nichts Hübsches.
    »Haben Sie was an meiner Aufmachung auszusetzen?« Sie sah an ihrem Businesskostüm herab. Unter der linken Achsel hatte es der Schneider weiter gemacht, wegen der Pistole.
    »So war das nicht gemeint.«
    »Sollte ich irgendwas mit Blümchen tragen? Ist das mehr mein Stil?«, fragte sie.
    »Nicht in Ihrem Alter …«
    »So? Wie alt schätzen Sie mich denn?«
    Der Mann blickte hilfesuchend zu seinen Kollegen. Die interessierten sich gerade intensiv für ihre Schuhe.
    Wenn Heide sich mit den Verkäufern anlegte, war das ein deutliches Signal, das Geschäft zu verlassen. Raupach bedankte sich und strebte zum Ausgang. Heide nutzte jede Gelegenheit, um sich über irgendetwas aufzuregen. Als Nächstes würde sie wissen wollen, in welchen Ländern die Anzüge genäht wurden, woher der Stoff stammte, ob Kinderarbeit im Spiel war und dergleichen.
    Raupach betrat die Drehtür.
    Heide war ihm auf den Fersen. »Wie alt würdest du mich schätzen, Klemens? Wenn du es nicht wüsstest.«
    Sie schaffte es nicht mehr, sich hinter ihm in die Drehtür zu zwängen. Das verschaffte ihm ein paar Sekunden Bedenkzeit.
    Heide war 48 und sah auch ungefähr so aus, obwohl sie sich alle erdenkliche Mühe gab, jünger zu wirken. Schlank, sehnig, leicht gebräunt – körperlich war sie bestens in Form. Nur im Gesicht hatte ihr Beruf Spuren hinterlassen. Die Augen lagen so tief in den Höhlen wie Tümpel am Grund eines verwunschenen Tals.
    Raupach überlegte fieberhaft. Wenn er 45 sagte, wäre das unhöflich. 40 wäre schmeichelhaft, aber die 4 stände immer noch am Anfang. 39 klang wie Schlussverkauf, 38 wie eine Notlüge.
    Sein Handy
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