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Das Geflecht

Das Geflecht

Titel: Das Geflecht
Autoren: Andreas Laudan
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Gesicht zu. Er konnte kaum glauben, dass sie ihn nicht wahrnahm, denn er sah sein eigenes Gesicht im Spiegel ihrer Pupillen.
    Ist das schon wieder der falsche Zeitpunkt?, fragte er sich.
    Es ist
nie
der richtige Zeitpunkt, antwortete eine zweite Stimme in seinem Kopf. Folglich war dieser Augenblick ebenso gut wie jeder andere.
    Sehr langsam neigte er sich vor und näherte sich Tias Gesicht. Der Anblick ihrer leicht geöffneten Lippen ließ ihn vor Verlangen schaudern. Doch er hatte für einen kurzen Augenblick vergessen, wie sensibel Tia auf Luftbewegungen reagierte. Ganz plötzlich wandte sie den Kopf zur Seite, und Leon hätte schwören können, dass es kein Zufall war – sie hatte seinen näher kommenden Atem gefühlt.
    «Oh mein Gott», flüsterte sie erschrocken.
    Leon hielt inne. «Was hast du denn? Ich wollte mir nur einen Wunsch erfüllen, ganz wie du gesagt hast

    «Hat dein Wunsch vielleicht   … etwas mit mir zu tun?»
    «Allerdings, das hat er», sagte Leon, des Versteckspiels müde. «Schön, dass du das auch einmal merkst.»
    Schweigend starrte Tia zu Boden. Sofort bereute Leon seinen sarkastischen Ton, wusste jedoch nicht recht, wie er die Situation entschärfen sollte. Er war zu weit gegangen – und nun war es um die Unbefangenheit geschehen, die bisher ihren Umgang geprägt hatte. Was sollte er tun? Sich entschuldigen?
    «Es tut mir leid, Leon», kam sie ihm überraschend zuvor. «Ich hatte schon manchmal das Gefühl, dass du   …» Sie suchte nach Worten, errötete leicht und wandte sich ab. «Ich   … war mir nur nicht sicher.»
    «Sieh mal an!», wunderte sich Leon. «Aber du hast keinen Ton gesagt.»
    «Du doch auch nicht!»
    «Ich glaube, ich habe mehr als genug Andeutungen gemacht, die eine intelligente Frau nicht missverstehen kann.»
    Tia seufzte. «Ich
wollte
sie nicht verstehen, Leon.»
    «Und warum nicht?»
    Sie schwieg einen Moment.
    «Ich brauche einfach Zeit», sagte sie endlich.
    «Zeit? Du hattest
zwei Jahre
Zeit!»
    «Es dauert lange, einen Menschen kennenzulernen, wenn man nur auf Gehör und Geruchssinn angewiesen ist.»
    «Es hätte dir jederzeit freigestanden, ein paar zusätzliche Erfahrungen mit dem Tastsinn zu machen.»
    Gerührt bemerkte Leon, dass sie über seine Schlagfertigkeit schmunzelte.
    «Du bist süß», sagte sie sehr leise, wurde jedoch sofort wieder ernst. «Ich kann nur wiederholen, dass es mir leid tut. Ganz bestimmt wollte ich dir nicht wehtun. Es ist nur   …»
    «Ja?»
    «Ich habe Angst.»
    Nun war es Leon, der sich ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte. «
Du
hast
Angst?
Ich dachte, dieses Gefühl kennst du überhaupt nicht.»
    «So scheint es vielleicht», gab Tia zu. «Ich fürchte mich nicht vor der Dunkelheit, nicht vor Gefahren für Leib und Leben, aber   …»
    «Aber vor der Liebe, nicht wahr?», sagte Leon ihr auf den Kopf zu.
    «Vielleicht», gestand Tia, das Gesicht noch immer zu Boden gewandt. «Ich weiß es nicht genau. Es liegt nicht an dir, denn ich mag dich wirklich, sogar sehr. Ich habe nur Angst vor Verwicklungen,glaube ich. Vor Problemen. Ansprüchen. Davor, dass die Dinge kompliziert werden. Und ich habe Angst vor   …» Tia schwieg einen Augenblick verlegen, fast beschämt. «…   vor Intimitäten. Ich habe einfach keine Erfahrung damit, verstehst du?»
    «
Überhaupt
keine?»
    «Na ja.» Tia seufzte unbehaglich. «Es gab da mal   … eine Art Unfall. Mit einem Jungen in der Strehl-Schule, der in derselben Wohngemeinschaft lebte wie ich. Aber es war   …» Sie rang nach Worten. «Es hat nicht funktioniert. Ich wollte es eigentlich gar nicht, und vielleicht hätte ich das deutlicher sagen müssen. Irgendwie konnte ich mir nie vorstellen, dass so etwas in meinem Leben vorkommt. Ich bin nun einmal schwerbehindert, und da dachte ich, dass das Thema Männer sich für mich erledigt hätte.»
    «Falsch gedacht», sagte Leon.
    Plötzlich fühlte er sich schuldig, sie derart in Verlegenheit gebracht zu haben, und suchte nach einer versöhnlichen Bemerkung. Da ihm nichts Gescheites einfiel, ergriff er vorsichtig ihre Hand, und als sie sich nicht wehrte, begann er behutsam ihre Finger zu streicheln, einen nach dem anderen.
    «Das fühlt sich gut an», gab sie leise zu.
    Leon grinste. «Du kannst jederzeit mehr davon haben.»
    Erneut näherte er sich ihrer Wange – als plötzlich Tias Handy piepte, das auf dem Schreibtisch lag. Erschrocken blickte sie auf.
    «Hör nicht hin!», bat Leon.
    «Ich muss», sagte Tia. «Es ist
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