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Das Fuenfte Evangelium

Das Fuenfte Evangelium

Titel: Das Fuenfte Evangelium
Autoren: Philipp Vandenberg
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    Donat erklärte seiner Frau, er habe die Besucherin bereits eingeweiht, sie wisse, worum es ihnen ginge, aber vor allem sei Frau von Seydlitz an der Frage interessiert, welche Frau bei dem Unfall im Auto ihres Mannes gesessen habe und auf welche Weise sie in den Besitz ihrer Personalpapiere gekommen sei.
    Die Frau im Rollstuhl wandte den Blick und sah Anne an. »Sie müssen wissen, ich bin von Beruf Altphilologin und Archäologin und habe für das Comité international de Papyrologie in Brüssel gearbeitet. Bei einem Kongreß in Brüssel sind wir uns zum ersten Mal begegnet, der Benediktiner Donat und ich. Und irgendwie ist es dann passiert – wir verliebten uns ineinander. Unsere Kongreßbesuche häuften sich, denn sie waren für uns zunächst die einzige Möglichkeit, uns zu treffen. Wir hofften anfangs beide, die Verliebtheit würde vorübergehen, aber das Gegenteil war der Fall, aus der Verliebtheit wurde Liebe. Die Situation stürzte uns beide in große Gewissenskonflikte. Donat ersuchte die Kurie um Dispens. Zuerst antwortete die Kurie überhaupt nicht, nach über einem Jahr kam der Bescheid, er dürfe, wenn es sich nicht umgehen ließe, sündigen, aber vom Zölibat könne ihm keine Dispens erteilt werden. Mit anderen Worten: Die Kirche duldete, daß ein Mönch ein heimliches Verhältnis hatte, aber öffentlich sich dazu bekennen und eine Frau ehelichen durfte er nicht. Ich sah damals nur einen Ausweg, ich mußte von einem Tag auf den anderen aus Donats Leben verschwinden. Es traf sich gut, daß auf einem Kongreß in München ein gutgekleideter Herr an mich herantrat. Er nannte sich Thales.«
    »Thales?« Anne schreckte auf. Sie ahnte Zusammenhänge.
    »Thales erklärte, er leite ein Institut in Griechenland und suche einen Experten für Pergament- und Papyruskunde und bot ein unverschämt gutes Gehalt. Ich sah darin eine Möglichkeit, unterzutauchen und Donat zu vergessen. Natürlich ahnte ich nicht, daß ich mich mit meiner Unterschrift dem Geheimorden der Orphiker verschrieben hatte, und als ich die Zusammenhänge erkannte, war es zu spät. Orphiker ist man auf Lebenszeit …«
    Die Stimme der Frau im Rollstuhl wurde unsicher, sie begann zu zittern, und ihre Mundwinkel zuckten, als sie weiterredete: »Ich wollte aufhören, wollte zurück in meinen alten Beruf, aber sie hielten mich fest. Ich verweigerte die Arbeit, später sogar die Nahrung, da entschied Orpheus, der auch ihr oberster Richter ist, ein Gottesurteil zu statuieren. Sie stürzen Orphiker, die sich nicht an ihre Gesetze halten, über den Phrygischen Felsen. Wer den Sturz überlebt, den lassen sie laufen. Kein Mensch wollte mir sagen, ob jemals jemand den Sturz überlebt hatte. Ich überlebte, aber ich konnte meine Beine nicht mehr bewegen. Zwei Irre aus der Unterstadt transportierten mich bis zur Straße nach Katerini und warfen mich in einen Graben. Wenig später entdeckte mich ein Lastwagenfahrer. Später hieß es, es sei ein Unfall mit Fahrerflucht gewesen.«
    Man sah, wie sehr der Bericht Hanna Donat mitnahm. Sie atmete in kurzen Stößen und blickte ins Leere. Donat ergriff ihre Hand und drückte sie.
    Zu Anne gewandt sagte er: »Als ich davon erfuhr, zog ich meine Kutte aus und ging. Ich schickte damals einen Fluch zum Himmel und brüllte meinen Schmerz heraus. An diesem Tag reifte in mir der Entschluß, an der Kirche Rache zu nehmen, weil sie keine Kirche der Gnade ist, sondern ein Institut gnadenloser Beamter. ›Mögen sie sich auch noch so sehr mit ihren Gewändern verhüllen‹, spricht Mohammed, der Prophet, ›so kennt doch Allah ebenso das, was sie verbergen, wie das, was sie öffentlich zeigen; denn er kennt die geheimsten Winkel des menschlichen Herzens‹.«
    Da nahm die Frau im Rollstuhl ihre Rede wieder auf und sagte: »Man hatte mir zwar die Fähigkeit genommen, mich fortzubewegen, aber die Kraft meiner Gedanken war ungebrochen. Ich wußte jetzt, worum es den Orphikern ging, und ich wußte von den Orphikern, daß sie Konkurrenten hatten, die sich mit aller Macht um das fünfte Evangelium bemühten: islamische Fundamentalisten. Allein auf mich gestellt hätte ich nie den Mut aufgebracht, gegen zwei Parteien zu kämpfen, gegen die Orphiker und gegen die Mafia der Kurie. Es fehlte mir auch die Zuversicht, daß Donat mich noch lieben könnte, mich, einen bewegungsunfähigen Krüppel.«
    »Du sollst nicht so reden«, unterbrach Donat seine Frau. »Liebe ist nicht von der Bewegungsfähigkeit irgendwelcher Gliedmaßen
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