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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
Autoren: Alexander Kluge
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gezeugt) und die ältere in ihrer hierarchischen Ordnung dem Eingang der Aussegnungshalle zustrebten, wollte Gerda ihren drei Söhnen, die jetzt erwachsene Riesen waren, je einen Trauerstrauß reichen, erstanden in einem der Blumenläden, die dem Friedhof attachiert waren: Jeder sollte dem leiblichen Vater ein solches Gebinde ins ausgehobene Grab hinabwerfen. Die Söhne weigerten sich. Andrea, die Schwester, kritisierte Gerda hitzig. Diese wollte aber doch nur, daß der Romeo, der unverbrüchlich als ein Teil der Seele des Toten ihr gehörte, eine Art zärtliche Nahrung, eine Henkersmahlzeit von den Seinen erhielte. Seine Söhne sind nicht mehr die seinen, antwortete Andrea. Dabei wollten die Söhne mit ihrer Weigerung, die Sträuße entgegenzunehmen, nur sagen, daß sie selbst etwas aussuchen wollten, das sie dem toten Vater hinabwerfen könnten. Sie wollten nicht von der Mutter, deren beharrliche Zuwendung zu dem verräterischen Vater sie mißbilligten, mit Trauerinstrumenten versorgt sein.
    Andreas Kritik blieb grundsätzlicher. Sie hätte es gern gesehen, daß die Schwester ihren angestammten Namen wieder annähme. Die Hoffnung, daß der verlorene Liebesgefährte doch noch zur Schwester zurückkehren würde, hatte sich offensichtlich durch dessen Tod zerschlagen. Der Tote lag aufgebahrt. Entgegen der üblichen Sitte war der Sarg nicht verschlossen. Sein (von den Bestattern geschminktes) Gesicht lockte Gerda, die sich nicht einmal mehr als Witwe bezeichnen konnte, aber sich nach dem Geliebten sehnte (den sie sich wie den Mann vorstellte, der einst um sie geworben hatte, nicht aber als geschminkte Leiche), ihre Gedanken schweifen zu lassen. Etwas in diesem Antlitz, dessen gegenwärtiges Aussehen sie im Kopf korrigierte und in ihrem Gemüt, suchte sich mit der Erinnerung zu vereinigen, die sie besaß. Wie Geier wachte die Familienpolizei darüber, daß sie sich nicht gehenließ. Sie sollte eine gleichgültige Miene zur Schau tragen, sich am Nachmittag auf der Feier nicht betrinken, sich zu angemessener Zeit verabschieden und nach Hause fahren. Von außen betrachtet gehorchte sie. Insgeheim wußte sie, daß sie dem Clan nicht genügen konnte.
Stärkung mit zeitversetzter Wirkung
    Damit ich nicht vom Fleische fiele, ordnete meine Mutter an, daß ich nach meinem ersten Geburtstag jeden Tag um 11 Uhr früh eine Tasse Kalbsbrühe erhielte. Mit Knochen aus der Fleischerei Steinrück. Das war für die Geburtsjahrgänge 1929 bis 1932 in der oberen bürgerlichen Mittelschicht eine übliche Praxis. Die Kinder sollten sich später auszeichnen. Man rüstete die Kinder mit Höhensonne, Lebertran und einer solchen Fleischbrühe zu einer besonderen Widerstandsfähigkeit aus, die sich schon zehn Jahre später in der Notzeit und nochmals im hohen Alter für eine ganze Rotte ehemaliger Kinder jener Zeit positiv auswirkte.

    Abb.: »Jeden Tag um 11 Uhr früh eine Tasse Kalbsbrühe.«
Das Glück des dicken Bonaparte
    Ein Schauspieler, der von Haus aus ein Kindergesicht und schmale Schultern hat, wird als Napoleon kostümiert, und von Szene zu Szene wird sein Gewand mit mehr Kissen ausgestopft, so daß er dicker und dicker wird. Stets wird er zu einer Waage geführt. Sein Gewicht wird im Moniteur publiziert: »Die Gesundheit des Kaisers war nie besser.« Sobald er in seinem Kostümwanst nicht mehr sitzen kann (und auch kaum zu gehen vermag), tanzen seine Gardesoldaten, die Bärenmützen, im Reigen um ihn herum, wie man es einst zu Revolutionsfesten um die Säule der Freiheit tat. Diese 1968 entworfene Filmsequenz von Stanley Kubrick war als Vorlage gedacht für eine Komposition von John Cage für Kinderpiano. Das sollte bei der Premiere von Kubricks großem Napoleon-Film als Vorfilm dienen.
Wie Zorn sich wandelt
    Das Eulengebirge erhebt sich abrupt und imposant aus der schlesischen Tiefebene. Ein Regiment Dragoner ritt am 5. Juni 1844 in sechs Kolonnen mit Nachschubwagen in das Gebirge ein. Die Truppe hatte den Auftrag, einen Aufruhr der Weber niederzuschlagen und durch ihre Präsenz die Ortspolizei zu verstärken. Am Abend dieses Tages kam die Truppe ramponiert aus den Bergen zurück. Schon rückte Verstärkung heran, welche Geschütze mit sich führte. Diese neue Truppe schlug am 6. Juni 1844 den Weberaufstand nieder.
    Das Eulengebirge ist in jener Epoche dicht besiedelt. Es besteht ein Überschuß an Arbeitskräften. Schon 1793 und 1798 hatte es Aufstände gegeben. Sie richteten sich gegen Fabrikanten und Zwischenhändler,
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