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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
Autoren: Alexander Kluge
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dagegen die junge Frau, die sich neben ihm bewegt. Offenbar will sie etwas erhalten, was er noch nicht zu geben bereit ist: Dauerhaftigkeit. Jetzt setzen sich die beiden auf die Stühle des italienischen Gartenrestaurants. Frühlingstag.
    Ihr Hemd ist so gefertigt, daß eine der Schultern stets freiliegt. Der Mann, der Ordnung liebt, auch in der Frage, ob eine Situation intim und verfänglich oder auf ein gemeinsames Mittagessen in der Sonne gerichtet ist, schiebt das Kleidungsstück über die nackte Schulter. Weil es dafür geschneidert ist, fällt es daraufhin von der anderen Schulter herab und bietet dort dem Blick die Nacktheit. Das schafft Unruhe.
    Der Tag muß für die junge Frau anstrengend sein. Sie setzt sechs bis acht Ausdrücke in ihr Gesicht, Blicke von unterschiedlicher Stärke; dann muß sie plötzlich gähnen, rettet sich mit dem verräterischen Mund an seine Brust. Stirnrunzeln und Lächeln. Sie kommentiert ein Gespräch, das gar nicht stattfindet, mit ihrer Miene. Der Mann hat seine Gesichtszüge nicht bewegt.
    Wenn sie in dieser Weise den ganzen Tag miteinander turteln, meint der Journalist Douglas von Pyrmont, der das prominente Paar beobachtet, ist bei plötzlich auftretender wirklicher Intimität, zum Beispiel wenn sie allein sind am Abend, keine Energie mehr übrig. Was wollen sie dann noch miteinander tun? Sie haben die tägliche Portion Zauber durch kleine Schlucke und Schubse der Annäherung (schon wieder küßt er sie rasch auf den Mund) den Tag über verbraucht.
    Der Mann faßt mit seiner breiten Hand an ihr Ohr, zieht daran, faßt in die Kuhle hinter dem Ohr, zeigt souverän seinen Besitz. Dann knetet er ihr Genick, durch das lange Haar hindurchfassend. Ob sie das schätzt, ist ihrem Gesichtsausdruck nicht zu entnehmen. Der wechselt zwischen unterschiedlichen Ausdrücken, ihr Blick sucht den seinen und dann seinen Mund. Von Pyrmont glaubt aber, daß der Ausdruckswechsel eine Art Pausenzeichen darstellt. Er hat die Wechsel des Mienenspiels auf ihrem Gesicht durchgezählt: 19 in der Minute. Man könnte die verschiedenen Mienenspiele auch für einen Ausdruck halten, so von Pyrmont.
    Der Mann fährt ihr von unten mit der Hand in den Ärmel, der den Oberarm bedeckt, über dem wieder die nackte Schulter glänzt. Sie nähert, wohl um ihn abzulenken, ihre Mundpartie seinem Mund. Vielleicht ist das ihre Art, die lästige Krabbelhand des Partners aus ihrem Ärmel zu schütteln. Schon vorüber der Kuß. Schon vorbei die Szene. Beide sitzen einen Moment passiv, wissen nicht weiter. Es muß aber weitergehen, und sie haben noch einiges im Repertoire. Ein Spiel wie dieses ist ihr tägliches Geschäft. Zu dieser Mittagszeit sind sie zu träge, es anzuwenden. Die Vorstellung stockt. Sie achten auch nicht auf den Beobachter, während sie doch wissen, daß sie beobachtet werden.
    Ihre Jugend, die Gesundheit, spult sich in zwei Temperamenten als einheitlicher Automat ab. Froh sind sie, daß sie leben, geben nicht sich selbst hin, wohl aber einen ganzen Tag ihres reichdurchfluteten Lebens. Das schenken sie einander, ohne beantworten zu können, ob der Andere es so haben will.
    Seine Hand (die einzige Unruhe, die er verbreitet) drückt jetzt ihre Hand in Richtung ihres Schoßes, halb unter dem Tisch. Sie wehrt das ab, indem sie ihm ins volle Haar greift, seinen Kopf umfaßt. Da läßt er den Vorstoß sein. Bereiten sich diese zwei Menschen, fragt sich von Pyrmont, der nicht wagt, ein Foto zu machen, jedoch entschlossen ist, in seinem Boulevardblatt über die beiden zu schreiben, auf eine längere Beziehung oder auf einen einzelnen Abend und Tag vor? Was haben sie für gemeinsame Interessen?
    Das ist nicht zu erkennen. Sowenig wie einem hellen Morgen ein Wille unterstellt werden kann. Diese zwei Menschen sind ein Stück Natur wie ein Tag, eine Wiese, sie spinnen an keinem Roman. In gewissem Sinn, so notiert von Pyrmont, sind sie BLUMEN IN DER STADT .
»Er hat die herzlosen Augen eines über alles Geliebten«
    Ich komme vom Trösten meiner besten Freundin Gesine. Inzwischen bin ich mir sicher, daß sie sich nicht umbringen wird. Überstanden ist nichts. Ich sah selbst zu, wie er sie abkanzelte und die Wohnungstür hinter sich zuschlug. Er besitzt die Delikatesse, daß er noch heute bei ihr wohnt, da er die Kosten für ein Hotelzimmer scheut. Von ihrer Wohnung geht er seinen Geschäften nach, besucht seine neue Geliebte, eine verheiratete Frau, derentwegen er Gesine zurückstufte.
    Bei meinen Trostworten (meist
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