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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
Autoren: Alexander Kluge
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jeden Preis in den Augen ihrer Partnerin als Gewinnerin dastehen wollen. Strahlend hatte sie das kleine Lebewesen, das noch nicht wissen konnte, daß es Zinat heißen würde, aber um sein Bein ein Erkennungsband trug, auf dem dieser Name und eine Zahl eingetragen waren, der Freundin vorgezeigt. Unter der Vorgabe, sie käme soeben aus dem Klinikum. Es war eine abenteuerliche Geschichte, wie die Wehen sie in der U-Bahn attackiert hätten und sie gerade noch den Kreißsaal erreichte. Und die Ärzte hätten ihr das Kind gleich mitgegeben? Frenzis Lebensgefährtin stellte zwar Fragen, war aber zu aufgeregt, auf die Antwort zu warten. Momentweise schien sie irritiert über das, was ihre Gefährtin behauptete.
    Wird man sie als Mittäterin belangen? fragte ein Reporter der Lokalzeitung. Dann müßte man ihr, meinte der erfahrene Ermittler, ein Tatwissen nachweisen. Ob das nicht offensichtlich vorliege? Sie unterschätzen die Verwirrung in solchen Situationen, antwortete der Ermittler. Die ganze Partnerschaft der zwei Frauen, meinte er, sei nicht durch Realismus charakterisiert. Zwei Träumerinnen? Träumerinnen, denen an ihrer Beziehung lag.
Fräulein Clärli
    Inserat vom 30. April 1945 im Anzeigenteil der Neuen Zürcher Zeitung :
    »Ich suche jene Skifahrerin in blauer Skibluse, die mit einer Freundin am Ostersamstag im Zug 16.18 Uhr ab Küblis nach Davos Dorf fuhr und die ich am Ostermontag auf dem Weissfluhjoch wiedertraf und mit ihr redete.
    Ich bin: jener Skifahrer in grauer Skihose und grauer Windbluse, der Ihnen am Ostersamstag schräg gegenübersaß.
    Leider waren alle Anstrengungen, Ihre Adresse ausfindig zu machen, umsonst, so daß mir nur noch dieser Weg offensteht. Ich bitte Sie deshalb höflich um Angabe Ihrer Adresse unter Chiffre V 6696 an die Annoncenabteilung der Neuen Zürcher Zeitung .«
    Der Inserent, bei dem sich die junge Schweizerin interessiert meldete, war ein Roué aus Flandern. Zu einer Eheanbahnung kam es gar nicht, sondern nur beim Kennenlernen zu einem flüchtigen Beischlaf. Danach entwich der Liebhaber, der sich so suchbereit gezeigt hatte, nach Frankreich; er glaubte, daß er dort für den Wiederaufbau gebraucht würde. Im Augenblick in dem er das Inserat aufgegeben hatte, war er aufrichtig der Meinung gewesen, sein Leben hinge von dieser schicksalhaften Begegnung in der Eisenbahn ab. Er besaß eine lebhafte Einbildungskraft, kannte sich wenig. Auch war er in der Schweiz nicht zu Hause. Die junge Frau aber, vom Rechtsbeistand des flüchtigen Kindsvaters beleidigend als »Tretmine« bezeichnet, gebar einen Sohn. Sie verteidigte die illegitime Geburt. Wortlos, vaterlos und in Not, brachte sie das Kind voran. Dieser Sohn war später der Begründer des Eheberatungsunternehmens Matrimonia & Co. in Zürich. Von ihm stammten zwei Töchter und ein Sohn, die alle, auch weil sie eng zusammenhielten, in Princeton studierten und in New York später Stellungen in der Finanzwirtschaft einnahmen. Deren Kinder wurden Popmusiker; auch sie gruppierten sich eng zueinander. Sie pendelten als Schweiz-Amerikaner zwischen den Kontinenten und verweigerten sich gemeinsam den Ansprüchen der Eltern, die aus ihnen GELDMENSCHEN machen wollten. Diese Forderung beantworteten sie mit Trotz. Die GREISIN CLÄRLI , 85jährig, die in ihrer immer noch einfachen Wohnung in Zürich lebte, lud diese Nachkommen in das Hotel Baur au Lac nach Zürich ein. Sie hatte ihren Leuten nichts abverlangt, deren Anfänge sie doch gesetzt hatte, nichts hatte sie je als Dank oder Geschenk angenommen. Jetzt äußerte sie sich in ihrer Tischrede. Sie habe dem ursprünglichen Täuscher und Betrüger längst verziehen, dem eifrigen Inserenten, der sie so intensiv gesucht und dann so rasch verlassen hatte, Ursache der Existenz aller der hier Anwesenden und ihres Anhangs. Im Gegenteil: Sie sei dem Ungetreuen, dem Übertreiber dankbar, wenn sie auf ihre tüchtigen und offenbar vielfältig interessierten Kinder und Kindeskinder blicke. »Die Causa des Verbrechers ist nicht hinwegzudenken, ohne daß dieser Erfolg entfiele«, so hat es Max Frisch formuliert. Ein Schuft habe etwas Gutes zustande gebracht, ergänzte sie, allein durch ein Element, das er selbst nicht beherrschte: durch seinen Eifer, mit dem er mich suchte. Wenn sie wählen könne, sagte sie unter Beifall, so würde sie nochmals diese Augen wählen und das übrige, DEN MANN ALS GANZES , abwählen. Männer, fuhr sie fort, seien ein Lügengeschlecht. Aber die Energie, welche die Lügen in
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