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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
Autoren: Alexander Kluge
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stieg das havarierte Schienenfahrzeug hinauf, bewegte sich mit den Füßen auf den Fenstern und suchte nach einer Möglichkeit, eines dieser Fenster zu öffnen. Er sah unten durcheinanderliegende Gegenstände und Insassen.
    Noch immer herrschte die furchteinflößende Stille. Der KFZ -Meister bemerkte einen anderen Zeugen, der bereits vor ihm hiergewesen war. Sie verständigten sich, daß einer von ihnen die Bahnschranke an der Straße, 200 Meter vor dem Bahnhofsgebäude, öffnen solle. Ohne daß die Herkunft der Nachricht feststellbar war, hieß es, Rettungskräfte seien unterwegs. Deren Fahrzeuge mußten einen Weg zur Unglücksstätte finden, daher das Öffnen der Bahnschranke. Die beiden Zeugen suchten nach einem Anhaltspunkt, wie sie sich auf diesem Gelände betätigen könnten.
    Der KFZ -Meister wandte sich wieder dem Triebwagen zu und suchte nach einer Eindringstelle. Werkzeug führte er nicht mit sich. Inzwischen lief der Lokomotivführer des Güterzuges heran, den die Schubkraft seiner Waggons 500 Meter über die Unglückstelle hinausgetrieben hatte. Erste Stimmen und das Geräusch lebendiger Menschen. Es hatte den Anschein, daß hinter dem Glas des Triebwagens Hände winkten.
Das verlorene Kind
    Aus der Zeit der beschleunigten Zwangskollektivierung im Süden der Sowjetunion wird berichtet, daß im Dorf Prokownaja ein sogenannter Mittelbauer (also nicht zur Dorfarmut zählend, aber auch kein Kulake) seine Abgaben nicht zahlen konnte. Er besaß ein Pferd, eine Kuh, ein Jungrind, fünf Schafe, einige Schweine und eine Scheune. Der Dorfsowjet führte in dem Familienbetrieb eine Beschlagnahme durch. Der Bauer reagierte darauf, indem er eines seiner Schweine ohne Erlaubnis abstach, einen kleinen Teil des Fleisches für die Familie bewahrte, den Hauptteil auf den Markt in die Stadt trug und gegen Brot tauschte. Es erschienen OGPU -Funktionäre auf dem Besitz des Bauern. Sie machten Inventur und beschlagnahmten alles. Der Bauer selbst, dessen Frau und der ältere Sohn, zwei minderjährige Töchter und das Jüngste im Säuglingsalter wurden für die Nacht in der Dorfkirche eingesperrt und am Morgen zum Bahnhof getrieben und in Viehwaggons gesteckt. Endlich fuhr der Zug ab.
    In der Nähe der Stadt Charkow hielt der Zug an. Ein Wächter ließ die beiden Töchter heraus, Milch für das Kleinkind zu ergattern. In einer Bauernhütte bekamen sie Lebensmittel und Milch. Als sie zu den Bahngleisen zurückkamen, war der Zug weg.
    Die beiden Mädchen wanderten über das Land. Auf einem Markt, von einem Milizionär verfolgt (vielleicht weil sie geklaut hatten), wurden die beiden voneinander getrennt. Porfiria, das jüngere Mädchen, wurde von einer Bauernfamilie aufgenommen.
    An dieser Stelle der Geschichte rechnete deren Erzähler, der aus dem Gedächtnis berichtete, mit einer gewissen Erschütterung seines Publikums. Vor allem der Moment bewegte das Herz, in welchem die Mädchen mit Beute zur Bahnlinie zurückkehrten, die Familie wiederzusehen trachteten, der Zug aber bereits weitergefahren war. Das war der Punkt, an dem der Berichterstatter seine wirksame Volte einbrachte: Gar nichts von dem Geschehen sei in das spätere Leben dieses Mädchens sichtbar eingegangen. Bald war sie, als wäre alles vergessen, unterstützt von der neuen Familie, die den Findling aufgenommen hatte, zu einer bewährten Arbeitskraft, ja zu einer Sportlerin auf Bezirksebene geworden. Lernbegierig sei sie gewesen, eine junge Pionierin. Sie war es gewohnt, Motor- und Segelflugzeuge zu fliegen, zeigte Leistung im Stabhochsprung, im Schießen, im 600-Meter-Mannschaftslauf.

    Abb.: Porfiria als »Nachthexe«.
    Sie war willig und setzte ihren guten Willen in für andere akzeptabler Weise, also kooperativ, ein.
    Bald war Krieg. Sie gehörte zum 110. Fliegerregiment, den sogenannten »Nachthexen«. In sehr einfachen einmotorigen Maschinen aus Holz, ehemaligen Sportflugzeugen, ausgerüstet mit einem Sortiment Handgranaten und einer Wurfbombe, flog sie in den Nächten über die Dörfer und die Biwaks hin, in denen der faschistische Panzerfeind seinen Schlaf suchte. Die Störflüge dieser Frauen zersägten die Nerven der jungen Feinde am Boden, die stets, wenn das Motorengeräusch aussetzte und die Maschine sich über ihnen im Gleitflug befand, mit dem Augenblick der »Bombardierung« rechnen mußten, bei der die geringe Wirkung der abgeworfenen Kampfmittel nie ausschließen konnte, daß sie tödliche Folgen hätten.
    Und nach dem Krieg? Studierte das
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