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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
Autoren: Alexander Kluge
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Bewegung hält, sei unentbehrlich für den Fortschritt.
    Über die seltsame Familienfeier berichtete die NZZ in einer Kurznotiz, weil der Ausgangspunkt der Affäre ein Inserat in dieser mehr als 200 Jahre alten Zeitung gewesen war. Die Notiz wiederum veranlaßte einen Nachfahren des jungen Belgiers, der am 30. April 1945 inseriert hatte, zu einer Zuschrift. Auf diese Weise lernten sich, sehr spät, Halbcousins, Demicousinen und Halbgeschwister kennen, ohne daß diese »zufällige Begegnung«, so äußerten sie sich, ihnen ein besonderes Erlebnis eingebracht hätte. Es fehlte hier der Druck eines Irrtums oder einer Illusion, welche die Zufälligkeiten Purzelbäume schlagen läßt.
Das Mädchen von Hordorf
    Ihre Nachrichten holt meine Schwester selten aus der Zeitung. Gern wollte sie mir bei der Recherche helfen. Sie kannte in Halberstadt eine ehemalige Schulkameradin, die sich in diesen Tagen im Bezirkskrankenhaus in Behandlung befand. Mit ihr telefonierte sie. Diese Frau ging los und sprach mit den Schwestern und Ärzten. In dieser Art der Nachrichtenbeschaffung besitzen die Ereignisse noch die Kontur, welche das Stadtgespräch und das intensive Reden in der Krankenanstalt ihnen gibt. Es sind lebendige Nachrichten.
    Zunächst hieß es, das zehnjährige Mädchen, das in der Unglücksnacht von Hordorf eingeliefert worden war, sei nun doch gestorben. Später ergab die Erkundigung, daß es noch lebte. Der Chirurg hielt es in den Armen. Das Krankenhaus war stolz auf die dramatische Operation, die das zertrümmerte Kind bereits am Sonntag mittag wieder zusammengefügt hatte. Das Mädchen hatte die Mutter, die Schwester, den Bruder, den Stiefvater und die Großmutter verloren, als der Personenzug, ein Nachtzug, von dem gewalttätigen Güterzug, beladen mit 1400 Tonnen Kalk, auf der eingleisigen Strecke zuschanden gefahren worden war. Alle diese Bezugspersonen mütterlicherseits waren tot. Die Familie besaß ein Grundstück im Ort Langenstein. Es war notwendig gewesen (auf Grund der Nachrichtenlage war der Tod aller Eigentümer bekannt), den Besitz unter Bewachung zu stellen, weil Plünderungen befürchtet wurden, wie die Schulkameradin meiner Schwester erzählte. Der leibliche Vater der Zehnjährigen wurde noch gesucht. Es fehlte für die Suche an konkreten Hinweisen, weil das schwerverletzte Kind nicht antwortete.
    Ein einsames Kind, sagte die Bekannte meiner Schwester. Lange telefonierten sie darüber, was aus dem Kind werden sollte. Man konnte ein so schwer verletztes Lebewesen ja nicht übergangslos in ein Heim einweisen. Nach Heilung konnte man es auch nicht »nach Hause« entlassen, in ein Totenhaus, selbst dann nicht, wenn täglich eine Fürsorgerin (und ergänzend eine Schwester des Krankenhauses) nach ihr sah. Das Kind war schulpflichtig, aber es war vorauszusehen, daß es zunächst in der Schule begleitet werden mußte.
Der erste Zeuge
    Nur 100 Meter von dem Unglücksort entfernt, an dem bei der Station Hordorf auf eingleisiger Strecke ein Güterzug mit einem Schienenbus zusammenstieß (zahlreiche Tote und Verletzte), befand sich der Königssaal der Zeugen Jehovas. Der großzügige Raum wurde für die erste Versorgung der Opfer und als Einsatzzentrale der Retter und der Polizei (bald auch der besuchenden Politiker) zur Verfügung gestellt. Der Hausmeister dieser Versammlungsstätte der Gläubigen war erster Zeuge des Geschehens am Katastrophenplatz gewesen, als dieser noch stumm dalag. In den Trümmern (den Nachhall des Zusammenstoßes hatte der Mann noch im Ohr) war kein Laut zu hören, als seien alle tot. Auch wenn Gott die Seinen umhüllt, nimmt er ihnen doch nicht die Wahrnehmung und die Erinnerung. Das Hausmeisterehepaar des Königssaales der Zeugen Jehovas, immer noch verwirrt vom Eindruck jener Nacht, nahm das Angebot einer psychologischen Betreuung durch einen Traumatologen aus dem Ameos-Klinikum St. Salvator in Halberstadt an. Der Experte kommt dreimal wöchentlich herausgefahren nach Hordorf.
Der zweite Zeuge
    Der KFZ -Meister hörte einen gewaltigen Krach. Er hatte seiner Frau, die von der Arbeit kam, die Haustür geöffnet. Später meinte er einen Blitz wahrgenommen zu haben. Er nahm das Fahrrad und fuhr zum Bahnhof. Die Stätte des Zugunglücks lag in völliger Stille. Das war es, was den Zeugen so erschreckte.
    Der Personentriebwagen aus Richtung Magdeburg war durch den Güterzug aus dem Gleis gedrückt und umgeworfen worden. Jetzt bildeten die Seitenfenster das »Dach«. Der reparaturerfahrene Mann
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