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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
Autoren: Katharina Hartwell
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für uns«, erklärte sie meiner Schwester und mir eines Abends. »Die Stadt wird uns guttun. Später werdet ihr mir noch dankbar sein, und neue Freunde findet ihr sicher auch schnell.«
    Hier irrte meine Mutter.
    Ich war ihr nicht dankbar, und ich fand auch keine neuen Freunde.
    Auch meine Schwester murrte zunächst, aber anders als ich lebte sie sich schnell ein und gehörte an unserer Schule schon bald zu den beliebteren Mädchen. Ich hingegen machte alles falsch, die einfachsten Dinge machte ich falsch. Sprach zu laut und zu ernst, verstand die Witze auf dem Schulhof nicht. Ich korrigierte und berichtigte und fiel ins Wort und eckte an. In den Pausen saß ich allein auf einer Bank und las. Sportlich war ich damals nicht, bewegte mich ungelenk und langsam, stand betreten am Rand des Spielfelds und wartete, wie ich überhaupt immer wartete. Ich ahnte bereits, ohne dass ich es so genau hätte benennen können, dass ich mit diesem Abschnitt meines Lebens nicht viel mehr tun konnte, als ihn auszusitzen.
    Als meine Mutter mit uns fort aus Erlburg und in die Stadt zog, war es, als habe sie meine Schwester und mich in ein anderes Land verfrachtet, an einen Ort mit fremden Gesetzen und Gepflogenheiten, sogar eine andere Sprache gab es, und andere Moden: klobige, schwere Schuhe und unförmige Hosen. Der Umzug war nicht nur die Abkehr von einem vertrauten Ort, sondern auch von einer vertrauten Zeit. In der Heimat war ich ein Kind gewesen, und in der Welt der Kinder hatte ich mich gut zurechtgefunden, aber an der neuen Schule waren die Kinder keine Kinder, sondern noch nicht voll ausgebildete Erwachsene. Sie wollten keine Spiele spielen, in denen ich Identitäten vorgab und festlegte, wer was zu sagen hatte. Sie wollten überhaupt keine Spiele spielen, oder wenn doch, dann solche, die so kompliziert waren, dass ich sie nicht verstand.
    Mit einem Mal war es, als trüge ich mein eigenes Gravitationsfeld mit mir umher. Sobald ich unsere Wohnung verließ, entfaltete es sich wie ein Raum um mich. Ich machte alles schwer und ernst, meine Mutter sagte in dieser Zeit oft, beinahe täglich, so kommt es mir heute vor: »Nimm es dir nicht so zu Herzen.« Aber ich nahm mir alles zu Herzen – dass die anderen Kinder mein Haar lustig fanden, meine Pullover, meine Haltung, meine Art zu gehen, meine Art zu sprechen, meine Stimme, meine Größe, meine Bücher. Dass sie Bilder von ausgemergelten, in sich verknoteten Strichmännchen malten und meinen Namen darunter schrieben. Dass sie mich nachäfften, wie ich x-beinig neben dem Kiosk stand. Dass sie mich wegen meiner tiefen Stimme Froschmädchen nannten. Ich nahm mir auch zu Herzen, dass Nina beliebt war und ich nicht, dass meine Mutter erst spätabends nach Hause kam und ich meist alleine aß (Nina ging zu Freunden). Ich nahm mir jeden Tadel jeden Lehrers zu Herzen. Ich nahm mir das Leben zu Herzen. Und in meinem Gravitationsfeld zog ich Menschen und Momente und manchmal ganze Tage zu Boden. Ich hatte mich schon immer vor Krankheiten, vor Katastrophen, vor dem Tod gefürchtet, auch schon im Haus meiner Großeltern, aber in der Stadt fürchtete ich mich vor allem vor dem Leben.
    Die beiden einzigen guten Freunde meiner Jugend hießen Merwin und Corwin. Etwa fünf Jahre sahen wir uns beinahe täglich, dann verloren wir uns aus den Augen.
    Merwin und Corwin waren Zwillinge mit einem auffälligen Erscheinungsbild: Ich habe sie immer bloß im Anzug gesehen, und sie hatten beide kein einziges Haar auf dem Kopf, ihre polierten Schädel glänzten im Licht meiner Schreibtischlampe. Die beiden wohnten auf dem Dach des Hauses, gleich über unserer Wohnung, und eine Zeitlang fürchtete ich mich, wenn sie nachts an mein Fenster klopften. Bald schon aber waren sie meine einzigen Verbündeten, und ich erzählte ihnen alles. Im Nachhinein betrachtet waren sie mir weniger Freunde, denn zwei weise, wenn auch weltfremde Väter. Sie sprachen stets sanft, aber bestimmt; sie hatten klare Standpunkte, auch wenn sie nicht immer dieselbe Position vertraten. Sie hörten sich meine Sorgen an, meinen Kummer, sie bedauerten mich und gaben mir ungewöhnliche Ratschläge. »Schneide ihr doch den Zopf ab!«, empfahl Corwin, als ich von der blonden Sabine erzählte, die sich über mein krauses Haar lustig machte.
    Merwin und Corwin hatten alle Bücher gelesen, die ich auch gelesen hatte, und dieselben Filme gesehen, und meist unterhielten wir uns in Andeutungen und Zitaten. Abends las ich ihnen vor. Man kann nicht sagen,
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