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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
Autoren: Katharina Hartwell
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verrät mir nicht, was sie nur meint, aber ich weiß es ja auch so, ich habe die Sätze so oft gehört, dass ich sie auch im Schlaf rezitieren könnte:
    Ich werde auch nicht jünger. Eine große, geheimnisvolle Uhr tickt. Der Lauf der Zeit ist nicht aufzuhalten, und wer jetzt kein Haus baut, der baut keines mehr.
    All das ist mir bekannt, und ich lache abfällig darüber, wenn ich mit meiner Mutter spreche. Nachts aber, wenn ich in meinem Bett liege, unter mir Pfefferspray und Brotmesser, hält mich die Vorstellung wach, dass etwas mit mir im Zimmer ist, ein unvorstellbar großes, dem Auge jedoch verborgenes Tier, das die Wände entlangschleicht. Ein Raubtier, nur schwerer, behäbiger, ein unsichtbarer Elefantenlöwe, der einen nicht zu Tode beißen, sondern mit seinem schieren Gewicht erdrücken würde. Will man nicht gefunden werden, ist es wichtig, vollkommen regungslos zu liegen, flach und genau getaktet zu atmen.
    *
    Die Professorin, die meine Arbeit betreut, ist eine robuste, energische Frau, und als sie beim Streichen ihrer Altbauwohnung von einem Stuhl fällt und sich den Oberschenkel bricht, sind wir alle sehr überrascht. Für mich, Frank und Nils, die Professor Dunker ebenfalls betreut, wird eine kleine Notkonferenz einberufen. In den Monaten zuvor bin ich zweimal mit Nils ausgegangen – aber an keinem der beiden Abende ist eine romantische Stimmung aufgekommen, stattdessen haben wir uns über Lacans Spiegelstadium gestritten. Den zweiten Abend haben wir in dem Einverständnis beendet, kein tatsächliches, sondern bloß ein freundschaftliches Verhältnis zu beginnen. Ich glaube aber nicht, dass man behaupten könnte, wir seien Freunde.
    Als wir die Nachricht von Professor Dunkers Oberschenkelhalsbruch erhalten, tauschen wir besorgte Blicke und kauen an unseren Fingernägeln. Wann wird Professor Dunker zurückkommen, und was, wenn jemand anderes unsere Betreuung übernehmen muss, und was, wenn wir darauf hoffen müssen, von einem anderen Graduiertenkolleg irgendwo in Deutschland aufgenommen zu werden?
    Es ist ein komplizierter Oberschenkelhalsbruch, teilt uns Professor Dunkers Mann mit. Er unterrichtet ebenfalls am Institut. Um mit uns zu sprechen, ist er in Professor Dunkers Büro gekommen, und dort steht er vor ihrem aufgeräumten Schreibtisch wie ein befangener Eindringling, wie eine traurige Schildkröte. Sie wird das Krankenhaus so schnell nicht wieder verlassen, erklärt er uns, und dass man über ein künstliches Hüftgelenk nachdenken müsse. Nicht bloß wegen des Sturzes. Sie habe schon länger Schwierigkeiten mit dem Laufen gehabt, aber das sei uns ja sicher aufgefallen. (Es war uns nicht aufgefallen.)
    »Wir müssen sie besuchen«, sagt Frank später, als wir in der Cafeteria vor unserem dritten Kaffee sitzen.
    Einen kurzen Moment suche ich nach einer Lüge (Ich bin allergisch gegen den Fußbodenreiniger, den sie in Krankenhäusern verwenden), aber statt mich lächerlich zu machen, nicke ich. Dann halte ich mich an meiner Kaffeetasse fest.
    Schon als Kind habe ich mich vor Krankenhäusern gefürchtet. Was vielleicht auch auf einen Verhörer zurückzuführen war: Lange Zeit glaubte ich, es sei von »Krakenhäusern« die Rede und verstand nicht, warum man Menschen, denen es nicht gut ging, in ein Krakenhaus brachte; es schien mir unheimlich und grausam.
    Bei dem ersten Krankenhausbesuch, den ich bewusst wahrnahm, war ich neun Jahre alt. Meine Schwester hatte sich den Arm gebrochen, und weil durch Zufall niemand zu Hause war, weder meine Großeltern noch mein Onkel Paul, musste ich mit in die Notaufnahme kommen. Ich erinnere mich noch an den hektischen Aufbruch und daran, wie meine Mutter über beigefarbenes Linoleum hastete, die schreiende Nina an der einen und mich an der anderen Hand. Und ich erinnere mich, wie ich sie erst später auf dem Parkplatz nach den Kraken fragte, die ich nirgendwo hatte entdecken können.
    »Es gibt so viel, wovor wir uns als Kinder fürchten«, sagte meine Mutter und lachte, als ich sie einmal an den Vorfall erinnerte. Und ich lachte mit ihr. Tatsächlich dachte ich: Es gibt so viel, wovor man sich als Erwachsene fürchten kann.
    Nils, Frank und ich haben uns auf dem Parkplatz verabredet. Jeder hat ein kleines, unpersönliches Geschenk besorgt, jetzt stehen wir zusammen wie drei Kinder, die nachsitzen müssen.
    Kurz vor dem Tod meines Großvaters bin ich das letzte Mal in einem Krankenhaus gewesen, und es ist genau so, wie ich es in Erinnerung habe. Ich bin nicht ganz
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