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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
Autoren: Katharina Hartwell
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sich darüber, dass nun überall Fahrradwege gebaut würden. Dabei fahre in Erlburg doch überhaupt niemand Fahrrad, es sei viel zu hügelig. Ich muss an meine Großmutter denken, an ihre Beschwerden über jede Baustelle, über jeden neuen Supermarkt, und was meine Mutter darüber zu sagen hatte. Aber weil ich mich nicht streiten will, behalte ich meine Gedanken für mich.
    »Das Haus …«, sagt meine Mutter und verstummt.
    Ich habe meine Mutter noch nie weinen gesehen oder gehört. Auch jetzt weint sie nicht, aber ich bin sicher, dass sie ganz reglos sitzt am anderen Ende der Leitung und an das Haus denkt, sich an die schwere Ruhe erinnert und an Möbel, die wie Leichen unter weißen Laken liegen.
    »Ich weiß nicht«, sagt sie. »Wahrscheinlich sollte man es verkaufen, oder … Es sollte wieder jemand dort leben. So ein großes Haus, und niemand wohnt darin. Das geht doch nicht.«
    »Nein«, sage ich.
    Ich liege auf der Couch, und über mir hängen Familienfotos, die ich aufgehängt habe, weil mir kahle Wände Angst machen.
    »Ich habe das Gefühl, dass alle Menschen um mich herum sterben«, sage ich und komme mir im gleichen Moment albern und wie eine Lügnerin vor. Ein Oberschenkelhalsbruch ist eine ernste Sache, aber kein Tod. Gerade will ich zurückrudern, als meine Mutter sagt: »Das stimmt ja auch. Alle Menschen um dich herum sterben. Du wirst den Tod jedes Einzelnen, den du kennst, erleben. Außer du stirbst vorher.«
    Mir fällt wieder ein, warum ich mich nach einem Albtraum nie von meiner Mutter trösten lassen wollte, sondern immer von meiner Großmutter.
    Am nächsten Morgen kann ich nicht aufstehen. Unter der zementschweren Bettdecke liege ich etwa eine halbe Stunde, bevor es mir endlich gelingt, mich in die Küche zu schleppen. Dort gieße ich Milch in den Kaffeefilter und schalte statt dem Ofen die Heizung an. Ich beschließe, dass ich vermutlich einen schlechten Tag habe, aber der nächste Tag ist nicht anders und der danach auch nicht. Ich gehe nicht länger laufen, da ich es nicht einmal fertigbringe, die Beine ordentlich zu heben, über Zweige und Bordsteinkanten schlurfe und regelmäßig hinfalle. Zwar breche ich noch jeden Morgen in die Bibliothek auf, aber nur, um an meinem gewohnten Platz zu sitzen und verstohlen FreeCell zu spielen.
    Das alles, rede ich mir ein, liegt an der momentan ungeklärten Situation. Ich fühle mich blockiert, weil ich nicht weiß, ob Professor Dunker die Arbeit weiterhin betreuen wird. Ich denke oft an Professor Dunker mit den Knochen, die leicht brechen, und dem weißen Haar und dem Papierhemd. Ich denke an die Professor Dunker meiner Vorstellung, nicht an die Person, die ich tatsächlich kenne.
    Auch als Professor Dunker uns per E-Mail mitteilt, dass sie unsere Arbeiten weiter betreuen wird, ändert sich nichts. Und ich verstehe, dass ich nicht mehr schreibe, weil ich nicht mehr schreiben möchte, weil ich nichts mehr zu erzählen habe über Krankheiten und den oftmals irren Glauben an ihre Heilung. Ich versuche, mich an die Anfangszeit zu erinnern, an das, was mich antrieb. Es ging mir darum, erinnere ich mich, Dringlichkeit zu vermitteln, von Menschen zu erzählen, die glauben wollten und glauben mussten, dass sie sich selbst retten können, indem sie sechs Eier am Tag essen, reglos in ihrem Bett liegen und mit niemandem sprechen, die glaubten, dass sich ihre Stimmung wieder heben würde, wenn sie sich einen Zahn ziehen ließen.
    Aber während ich blinzelnd meinen Computerbildschirm anstarre, verstehe ich, dass ich gar nichts vermittle. Niemand, der liest, was ich schreibe, wird sich danach verändert fühlen, getröstet oder versöhnt, niemand wird irgendetwas tatsächlich verstehen. Und ich bin weit von jeder Dringlichkeit entfernt; während ich an Quellenangaben feile, am Aufbau meiner Argumente, meiner These, fühle ich mich wie ein Schlafwandler, ein Mensch auf Autopilot.
    Um mich herum wirken alle Menschen vollkommen glaubwürdig. Sie sitzen an ihren Tischen und tippen eifrig, und ich lauere, ich warte mit schmalen Augen und angespannten Schultern darauf, dass jemand aufspringt, dass jemand auf einen Tisch steigt und ruft: »Es ist genug, es reicht. Das alles ist großer Unsinn. Kommt, lasst uns aufstehen, kommt, lasst uns gehen.«
    Während ich in meinem Bett liege und mir für meine Doktorarbeit eine Dokumentation über die Salpêtrière und andere berühmte Krankenhäuser des 19. Jahrhunderts anschaue, überlege ich mir, dass auch ich gern eine
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