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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
Autoren: Katharina Hartwell
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bei mir, und alles, was ich tue, sage oder denke, hat nur bedingt mit mir zu tun, ich fühle mich meiner selbst enthoben. Die Angst ist wattig, umgibt mich zunächst wie ein unsichtbarer Raumanzug, durchdringt aber bald meinen gesamten Körper und füllt mich von innen her auf. Die souveränen Schwestern hier scheinen mir wie eine höher entwickelte Lebensform mit übernatürlichen Fähigkeiten. Ihre besondere Begabung liegt nicht darin, unter Wasser zu atmen oder zu fliegen, sondern darin, sich leicht und selbstverständlich in dem Schmerzgewaber zwischen den beschädigten und nicht wiederherzustellenden Körpern zu bewegen. Dass es hier Postkarten zu kaufen gibt und Schokoladenriegel, dass auch hier Kinder spielen und es nicht an allen Tagen regnet, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dies ein Ort ist, an dem gestorben wird.
    Während ich mit Frank und Nils durch die Schiebetüren laufe, bin ich nicht mehr ich selbst, sondern bloß eine Schauspielerin, die mich spielt. Wie wir laufen, wie wir uns anschauen, was wir sprechen, das alles ist ein großes Schauspiel. Sogar Requisiten haben wir: Pralinen und Wein. (»Wieso sollte sie nicht trinken dürfen? Sie ist doch nicht wegen ihrer Leber im Krankenhaus«, sagt Frank.) Schon sehe ich unseren Film weiterlaufen, sehe uns ein schummriges Krankenhauszimmer betreten, in dem Professor Dunker in einem Bett liegt – nicht umringt von ihren Liebsten, denn ich habe sie nie von Liebsten sprechen hören. Nur ihr Mann wird an ihrem Bett sitzen.
    Professor Dunker ist eine elegante Frau, die ihre Kleidung wie eine Uniform trägt. Sogar ihr glatt-glänzendes Haar scheint mir mehr Helm als Frisur. Obwohl sie nahezu blind sein muss, habe ich sie noch nie eine Brille tragen sehen. Selbst wenn ihre Augen schon gerötet und klein sind, befreit Professor Dunker sie nicht von den wassersaugenden Linsen.
    In meiner Vorstellung aber ist Professor Dunker in ein weißes, papiernes Hemd gekleidet, und ihr Haar glänzt nicht mehr. Möglicherweise ist es plötzlich und ganz unerklärlich weiß geworden. Sie wird sehr fragil sein, und erst jetzt werden wir verstehen, dass es immer nur ihre Kleidung war, die sie aufrecht hielt; die sich wie ein magischer Mantel über ihren wahren Körper legte und ihn verschwinden ließ; dass Professor Dunker gealtert ist, wie wir alle es tun; dass sie unter ihrem anthrazitfarbenen Blazer längst stirbt. Aber wäre es doch nur bloß meine Vorstellung, und ginge es doch nur um das, was man sieht, und nicht um das, was man auch riechen kann, denn man wird den Tod riechen können. Und wenn wir erst zu viert um Professor Dunker sitzen und so tun, als bemerkten wir nichts weiter, werden wir in Wahrheit an nichts anderes denken als diesen klammen, erdigen Kellergeruch.
    In Zeitlupe bewegen wir uns auf den Aufzug zu, der uns bis in den neunten Stock und in Professor Dunkers Krankenzimmer bringen wird. Mitten in der Eingangshalle bleibe ich stehen. »Geht schon mal vor. Ich komme nach. Ich muss nur noch kurz …«, sage ich und lasse meine Worte klammheimlich auströpfeln.
    Frank und Nils ziehen die Augenbrauen hoch, aber keiner der beiden fragt mich, was ich noch muss.
    Ich komme nicht nach. Ich warte, bis beide im Aufzug verschwunden sind, dann drehe ich mich um. An diesem Tag bin ich fünf Jahre alt und erlaube mir, davonzurennen. Die Pralinen stelle ich auf eine Bank und gehe im Eiltempo vorbei an Krankenwagen und gemächlich daherspazierenden Paaren.
    Obwohl ich abends mit Frank und Nils verabredet bin, bleibe ich zu Hause. Als Frank anruft, murmele ich etwas von einer Magenverstimmung, die sich schon in der Eingangshalle bemerkbar gemacht habe. Deswegen sei ich ja auch nicht nachgekommen.
    »Ich kurier das lieber aus«, sage ich und verstehe, dass ich die Wahrheit sage, dass es tatsächlich etwas gibt, von dem ich mich kurieren muss. Es fühlt sich auch an wie eine Krankheit, oder eher wie die Zeit unmittelbar vor ihrem Ausbruch, wenn man sich ihrer noch nicht sicher sein kann; das Stechen ist noch kein Stechen, und das Pochen ist noch kein Pochen; in den Knochen, in den Muskeln, im Gehörgang steckt bloß ein erstes Zittern, die Ahnung eines Schmerzes, der vielleicht irgendwann eine genaue Bezeichnung einfordert, Seitenstrangangina oder Magenschleimhautentzündung, vielleicht aber auch einfach verebbt und weiter nichts gewesen ist.
    Abends telefoniere ich mit meiner Mutter, die mir erzählt, dass sie in der Woche zuvor in Erlburg gewesen ist. Sie beschwert
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