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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
Autoren: Katharina Hartwell
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Augen. Ich weiß nicht, was Augen freundlich macht. Sicher nicht der Farbton, denn der ist unauffällig, graubraun, schlammig, könnte man sagen. Vielleicht hängt es von ihrer Form ab, oder davon, wie und wo sie im Kopf sitzen. Obwohl Philip ungefähr in meinem Alter ist, hat er bereits eine Halbglatze. Er erinnert mich an jemanden, mir fällt nie ein, an wen, aber einmal, als ich kaum bei mir bin, weil ich so wenig geschlafen habe, nenne ich ihn Corwin. Möglich, dass mir das nicht zum ersten Mal passiert, denn Philip scheint nicht überrascht. Er korrigiert mich nicht und fragt auch nicht, wer Corwin ist.
    Effie und ich schleichen umeinander herum und kämpfen, auch und vor allem um die kleinen Dinge. Vielleicht sind wir einander dankbar, vielleicht ist ein Kleinkrieg genau das, was wir brauchen, um uns von dem großen Kampf abzulenken.
    »Irgendwer sollte seinem Vater Bescheid geben. Er muss doch wissen, was mit Jan ist«, sage ich einmal, und im gleichen Moment tut es mir leid. Da ich aber weiß, dass ich es durch nichts wiedergutmachen kann, versuche ich es erst gar nicht.
    Wenn Effie mit dir spricht, beobachte ich sie aus meiner Ecke und verschränke die Arme. »Das bringt doch überhaupt nichts«, sage ich und muss warten, bis ich wieder alleine mit dir bin, bevor ich mich über dich beugen kann, um dir ins Ohr zu flüstern.
    Bald schon bin ich die Streitereien mit Effie müde. Während ich mich graugesichtig auf den Stuhl zwischen deinem Bett und der Fensterbank klemme, sucht Effie nach neuen Feinden. Weil sie vor deiner Ärztin zu viel Achtung hat und die Stationsschwester fürchtet, bleiben nur die anderen Schwestern und Philip.
    »Er taucht viel zu selten auf«, beschwert sie sich bei mir über Philip.
    »Wozu soll er denn öfter kommen?«, frage ich. Den Kopf in den Händen, murmele ich in meine Handflächen, weil ich weiß, dass es Effie reizt, wenn man undeutlich spricht.
    Wenn Effie beginnt, Philip zu quälen, ihn argwöhnisch zu verhören oder bloßzustellen, suche ich immer nach einem Vorwand, um das Zimmer verlassen zu können. Zum einen, weil ich aus nichts als gebündelten Nervenenden bestehe, weil mir jedes harsche Wort, jede Auseinandersetzung, jeder Vorwurf in den Ohren schmerzt. Zum anderen weil ich mich vor dem fürchte, was er Effie entgegnen könnte, einen Satz sagt wie: »Ihr Sohn ist hier nicht der einzige Patient.« Und ich würde mich schämen, für Effie, für mich, für uns in diesem Zimmer, auch für dich, geradeso als wärest du es, der hier mehr Aufmerksamkeit verlangt, als ihm zusteht, als könnte der Satz ein schlechtes Licht auf dich werfen.
    Oder aber: Ich würde mich überhaupt nicht schämen. Ich würde Philip anspringen, würde spucken und fauchen, er ist aber ihr einziger Sohn , würde ich sagen, er ist aber mein einziger –
    Er ist aber mein Einziger, würde ich sagen.
    Vielleicht habe ich mehr mit Effie gemein, als ich mir eingestehen möchte. Genau wie Effie neide ich Philip seine Kenntnisse. Wenn ich sehe, dass ein Fremder mehr über deinen Körper weiß als wir, sticht und zieht es hinter meinen Rippen. Ich will dann etwas Unsinniges sagen wie: »Er mag keinen Fisch«, nur um zu beweisen, dass auch ich etwas über dich weiß.
    Genau wie Effie bin ich ungeduldig. Gemeinsam lauern wir auf Philip, um ihn mit Fragen zu bestürmen: Was hat dies zu bedeuten? Und was hat jenes zu bedeuten? Wir glauben, Bewegungen in deinem Gesicht auszumachen, ein Zucken, ein Flackern. Wir wollen wissen: Ist dies ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Weil es zur Politik der Klinik gehört, nicht vor den Patienten zu sprechen, als seien sie nicht anwesend, beantwortet Philip uns unsere Fragen erst auf dem Flur. (Nichts bedeutet dies. Und: Nichts bedeutet das. Was wir glauben, beobachtet zu haben, ist kein Zeichen, sondern etwas, das wir uns eingebildet haben oder das nichts weiter zu sagen hat.)
    Genau wie Effie fühle ich mich von Philip betrogen. Wenn er den Kopf schüttelt, wenn er sagt »Nein, das heißt leider nichts«, fühle auch ich, dass er uns etwas verwehrt, uns etwas ausreden will, als streite er die offensichtliche Besserung deines Zustands aus reiner Willkür ab.
    Genau wie Effie denke auch ich, gewissenhafter und gründlicher als das Pflegepersonal zu sein. Dass es in unserer Macht steht, etwas über dich herauszufinden, was alle anderen übersehen haben.
    Wenn ich alleine mit dir im Zimmer bin, lege ich mein Ohr an deine Brust. Ich höre genau hin, ich warte auf einen Fehler
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