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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
Autoren: Katharina Hartwell
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ist abhandengekommen.
    Du bist abhandengekommen.
    Die anderen sagen:
    Genauso gut ist es möglich, dass du tief in dir verschlossen bist, so weit abgesunken, dass wir nicht die Mittel und Möglichkeiten haben, um dich zurückzuholen. Die Wege, um dich zu erreichen, wir kennen sie noch nicht.
    Es gibt keine Sicherheiten mehr. Nur noch fließende Grenzen. Es gibt Wenns und Abers. Es gibt neue Erkenntnisse und erhitzte Diskussionen. Es gibt Überzeugungen, und es gibt Widersprüche. Es gibt PET-Scans und Hirnscans. Es gibt Wahrscheinlichkeiten und Statistiken.
    Es gibt:
    Das Wachkoma und etwas, für das wir seit noch nicht allzu langer Zeit einen Namen haben:
    Minimally Conscious State.
    MCT.
    Es gibt Unterschiede zwischen beidem.
    Es gibt die große Schwierigkeit, die Unterschiede festzumachen, sie zu entdecken und festzulegen.
    Es gibt Gehirnströme.
    Es gibt die Möglichkeit, auf dem Weg zurück ins Leben steckenzubleiben.
    Es gibt die Möglichkeit, den Weg wiederzufinden.
    Es gibt die Möglichkeit, den Weg nie wieder zu finden.
    Es gibt das Großhirn.
    Es gibt einen Mantel.
    Es gibt das apallische Syndrom.
    Es gibt mich am Computer, wie ich lese und weiß und verstehe und in Erfahrung bringe.
    Es gibt mich, die jetzt weiß: Apallisches Syndrom kommt aus dem Griechischen, appallisch bedeutet »ohne Mantel«.
    Es gibt Gehirne, die sich erholen.
    Es gibt Gehirne, die sich nie wieder erholen.
    Es gibt die Funktionen des vegetativen Nervensystems. Dazu gehört das Atmen, und dazu gehört dein Schlafrhythmus, und dazu gehört dein schlagendes Herz.
    Es gibt offene Augen, und es gibt manchmal ein Rucken und ein Zittern, und es bedeutet nichts.
    Es gibt jetzt nicht mehr länger nur dich und mich.
    Es gibt jetzt all das.
    Und davor:
    Gibt es einen Tag, der ist ein weißer Fleck. Oder vielmehr: der ist ein schwarzes Loch.
    Es gibt einen Tag, über den ich nichts weiß, dabei ist er der vielleicht wichtigste Tag meines bisherigen Lebens, er ist das Zentrum, um das alle anderen Tage und Nächte sich anordnen und kreisen, in das sie langsam hineingezogen werden.
    Es gibt einen Anruf, an den ich mich nicht erinnern kann, und es ist der vielleicht wichtigste Anruf meines Lebens. Ich könnte nicht sagen, was während ihm gesprochen wird, schon während die Worte durch die Leitung und in mein Leben schleichen, vergesse ich sie.
    Und es muss einen Moment geben, in dem ich das Telefon wieder in die Ladestation einstecke und es einen Piepton von sich gibt.
    Aber daran kann ich mich nicht erinnern.
    Es muss eine Taxifahrt ins Krankenhaus geben und einen Taxifahrer, der spricht oder vielleicht auch nicht.
    Aber daran kann ich mich nicht erinnern.
    Es muss Anrufe bei Lotta, bei Effie, bei Ariane geben, und vermutlich sage ich Wörter wie »Unfall«, »kritisch« und »Koma«, und vermutlich zittert meine Stimme, und ich mache sehr lange Pausen und antworte gedehnt wie jemand, der unter dem Einfluss starker Beruhigungsmittel steht, und vermutlich stehe ich unter dem Einfluss starker Beruhigungsmittel, aber eigentlich kann ich mich an nichts davon erinnern.
    Danach gibt es das Krakenhaus und die Erkenntnis, dass ich schon als Kind alles richtig verstanden habe. Denn die Kraken gibt es tatsächlich. Sie sind bloß unsichtbar. Aber das macht keinen Unterschied: Ich kann all ihre Arme fühlen, und sie halten mich im festen Griff, sodass ich mich nur noch schwerfällig und wie gegen einen Widerstand bewegen kann.
    *
    Ich habe nicht gewusst – denn niemand hat es mir gesagt und ich hatte bis dahin nichts Vergleichbares erlebt –, dass der Schmerz körperlich sein würde. In den ersten Tagen nach dem Anruf, in den ersten beiden Wochen, fühle ich mich aufgespießt; in meinem Körper steckt ein Pfahl, ich spüre ihn im Brustkorb, im Magen, er drängt die Organe ab. Ich kann nicht mehr sprechen, nicht mehr essen, sogar das Atmen fällt mir schwer. Ich übergebe mich oft. Meist nur Galle, weil ich so wenig esse. Mir ist, als ob ich etwas ausspeien müsste, einen Fremdkörper, den ich in mir trage, etwas, das nicht zu mir gehört, dieses Unglück, das jetzt an mir haftet, das mich ganz ausfüllt. Wenn ich es einmal für einen sehr kurzen Moment vergesse und es mir dann wieder einfällt, entfaltet es sich vollständig bis an die Grenzen meines Körpers, wo es mir den Brustkorb auseinanderbiegt und durch die Haut zu brechen droht, bis ich würgen muss. Das geschieht zu unterschiedlichen Zeiten des Tages, aber immer nach dem Aufwachen. Ich fühle mich
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