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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
Autoren: Katharina Hartwell
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an die Zeichentrickfilme meiner Kindheit erinnert, in denen Ambosse auf kleine Figuren fallen und sie vollständig plätten. Ich werde jeden Morgen von einem Amboss geweckt.
    Und der Zeichentrickalbtraum meines neuen Lebens geht weiter. Manchmal öffnet sich ein Schlund unter mir, in den ich mit rudernden Armen hineinfalle. Beim Verlassen der Krankenhauscafeteria geben einmal meine Beine unter mir nach. Ich knicke weg, sacke ein, kann mich gerade noch an einem Stuhl festhalten. In Momenten wie diesen ist es, als hätte mir jemand einen Schlag verpasst, mich zielgenau getroffen, in der Mitte meines Körpers, an einem Punkt, der geheim und so sehr mein Selbst ist, dass ich die Erschütterung noch Stunden später spüre. Das kann in allen möglichen Situationen passieren: wenn im Radio ein Lied gespielt wird, von dem ich weiß, dass du es magst; wenn jemand an mir vorbeiläuft, der deine kobaltblauen Turnschuhe trägt, wenn mir Lotta oder Mona oder Ariane oder irgendwer, den du gekannt hast, auf der Straße begegnet.
    Ich beantworte ihre Anrufe nicht mehr. Ich mache einen großen Bogen um die Bibliothek. Ich werde nie wieder Paternoster fahren. Ich verstecke mich vor der Welt, als wäre dein Unfall ein furchtbares Geheimnis, als wüsste nicht bereits jeder davon.
    Am Telefon fragt mich meine Mutter, ob jemand bei mir ist, ob sie und Nina vorbeikommen sollen.
    »Nein, nein«, antworte ich und kreische fast. Ich kann doch niemanden um mich haben.
    Als sie schließlich doch kommt und mich sieht, vergisst sie vor Schreck ihre dramatischen Gesten. Sie schlägt nicht die Hände vor dem Mund oder über dem Kopf zusammen. Sie steht bloß und schaut.
    In den ersten beiden Wochen im Krakenhaus sitze ich oft minutenlang still. Ich zögere es stets hinaus, aufzustehen, loszulaufen, fürchte schon die kleinsten Bewegungen und dass ich auseinanderbrechen könnte. In meinen Träumen lösen sich meine Gelenke, meine Unterarme, meine Beine fallen von meinem Rumpf, meine Haare in Büscheln aus.
    »Wie mager du bist«, sagt Nina voller Sorge und Bewunderung, als sie mich im November für einige Tage besucht.
    Ich schüttele müde den Kopf. Ich fühle mich nicht, als hätte ich Gewicht verloren, sondern im Gegenteil, als hätte sich mein Gewicht vervierfacht. Manchmal, wenn ich den ganzen Tag im Krakenhaus gewesen bin, kann ich nicht einmal mehr den rechten Arm heben, so schwer ist er.
    Ich markiere meine Tage im Krakenhaus mit Bleistiftstrichen an unserer Schlafzimmertür. Nachdem ich den dreißigsten Strich gezeichnet habe, fange ich wieder an zu laufen – zunächst nur wenige Minuten am Stück, bis ich stehen bleiben muss, nassgeschwitzt und schwer atmend; mein lautes Herzklopfen hört man in der ganzen Stadt, in allen Kindergärten, Schulen und Büros, in allen Arztpraxen. Doch nach und nach laufe ich immer weiter. Durch Felder und den Regen, den Wald und den Park. Es ist mir nie zu heiß oder zu kalt, zu hell oder zu dunkel. Am liebsten ist mir der Nebel: wenn ich mir vorstellen kann, in ein weißes, wolkiges Meer zu tauchen, in dem ich mich vergessen, in dem ich verschwinden darf.
    Zunächst bin ich so langsam, dass ich damit rechne, jede Sekunde von Spaziergängern überholt zu werden. Ich schlurfe und schleppe mich, ziehe die Füße, die nicht in Laufschuhen, sondern kleinen Betonblöcken stecken, über den Asphalt. Ich muss oft stehen bleiben, weil mir schwindelig wird und ich das Gewicht meiner Beine nicht mehr stemmen kann. Ich denke dann an deine Fotografien, deine getackerten Menschen und dass auch mich irgendwer mit silbernen Klammern in der Welt befestigt haben muss.
    Mit den Wochen werde ich schneller. Bald verlangt mein Kopf nach einem Tempo, das meine Beine und Lungen nicht halten können. Ich laufe immer zu schnell los, kann es nicht abwarten, vorwärts und von der Stelle zu kommen, nach den ersten Metern ist mein Körper ein einziges Rattern, ein Stechen und Ziepen. Ich renne trotzdem weiter. Ich laufe vor etwas davon, das mich spätestens dann einholt, wenn ich auf den Stufen vor der Haustür zusammenbreche.
    Wenn ich nicht laufe, gehe ich schnellen Schrittes und mit gesenktem Kopf durch den Park. Ich interessiere mich nicht für Bäume oder Bäche, für Hunde oder den Himmel. Ich muss nichts wissen über die Welt. Einzig auf die Bewegung kommt es mir an, darauf, nicht nur den Raum, sondern auch diese Zeit hinter mir zu lassen: Ich habe nichts in ihr verloren. Und in diesen Tagen glaube ich noch und muss es glauben,
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