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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
Autoren: Katharina Hartwell
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einzelne an. In der ersten Woche scheint es mir dringend notwendig, herauszufinden, welches Lied du gehört hast. Als würde es einen Unterschied machen, wenn ich wüsste: Deine letzte Minute hat sich aus der Straße, dem Wind und diesem einen Lied zusammengesetzt.
    Ich weiß es aber nicht. Ich weiß nur, was du nicht gehört hast. Das Auto hinter dir. Gesehen hast du es auch nicht, und vielleicht hast du es nicht einmal gespürt. Es muss gewesen sein, als sei in einem kleinen fensterlosen Raum das Licht ausgeschaltet worden. Eben warst du da und hast Stimmen oder Gitarren oder Streicher gehört und vielleicht in weiter Ferne Rufe und quietschende Reifen, und dann ist es von einer Sekunde auf die nächste still gewesen.
    *
    Genau wie den Player habe ich auch das Fahrrad zurückbekommen. Eine Weile steht es im Hinterhof. Ich will es nicht anfassen, und am liebsten würde ich es auch nicht sehen. Gleichzeitig aber habe ich Angst, dass es gestohlen werden könnte. Diese Angst ist so groß, dass ich nachts aufschrecke. Ich kann erst wieder einschlafen, wenn ich zum Küchenfenster gegangen bin und kontrolliert habe, ob das Rad noch dasteht. Auch tagsüber, wenn ich nicht im Krakenhaus bin, sehe ich mehrmals nach.
    Irgendwann rufe ich Frank an und bitte ihn, das Rad für mich in den Keller zu bringen. Zuvor kaufe ich ein Schloss, damit sich die hölzerne Tür verschließen lässt.
    Ich verwahre es wie einen Schatz, und ich fürchte es wie ein Monster.
    Die Geschichte der Geschichten
    Als Philip mich findet, liege ich auf dem Boden. Zuvor bin ich durch das Zimmer getobt, ich bin ein Sturm gewesen. Weil ich keines der Geräte und vor allem dich nicht habe beschädigen wollen, bin ich auf die Wände und die Heizung losgegangen. Auch ein Bild habe ich von der Wand gerissen. Dann bin ich auf das Glas getreten, bis es gesplittert ist.
    Seit Wochen reizt mich die Welt, weil sie so unangemessen unversehrt, ordentlich und geschlossen daherkommt. Dabei hätte sie aufbrechen müssen, an diesem Tag hätte es überall Explosionen geben und der Himmel sich verdunkeln müssen. Tatsächlich habe ich in der Zeit nach deinem Unfall erfahren müssen, dass sich nichts verändert hat. Morgens verlasse ich die Wohnung und sehe, dass alles noch funktioniert: Busse und Autos fahren, Menschen kaufen ein, und Kinder gehen Hand in Hand über Zebrastreifen. Es ist, als hätte sich eine Katastrophe ereignet, um die niemand weiß außer mir, als sei der Mond auf die Erde gefallen, als seien alle Länder geflutet worden, als stünden die Straßen unter Wasser und alle Häuser, doch niemand bemerkt es außer mir. Ich will, dass man verkündet und eingesteht, dass die Welt sich verändert hat, dass sie nicht mehr dieselbe ist. Das Leben nach dir ist eine Zumutung, und ich sollte zumindest von angemessenen Trümmern umgeben sein. Ich will keine trostspendenden Karten und keine sorgenvollen Anrufe. Ich will zurück in das verfallende Haus und deine Stimme hören und etwas anderes zu dir sagen als »Bis später« oder »Beeil dich«. Und weil ich nicht weiß, wohin mit meinem Wollen, tobe ich durch den Raum. Ich trete gegen die Wand und zerschlage das hässliche Landschaftsbild, doch tue ich all das halbherzig und mit Bedenken. In den Nachbarzimmern, weiß ich, wird ja auch gewartet und gehofft, geflüstert und gefürchtet. Darum schreie und heule ich nie laut, nur manchmal kommt mir ein Gurgeln hoch, ein Würgen, dann presse ich beide Hände auf den Mund.
    Nachdem ich das Bild von der Wand geholt habe, verebbt meine Wut und nimmt alles mit sich: den schnellen Herzschlag, das Würgen, die Hitze. Ich gehe zu Boden und bleibe dort liegen, bis Philip mich findet. Er kniet sich neben mich und fragt nach dem Blut.
    Welches Blut? Ich richte mich ein Stück auf und stelle fest, dass mein Knöchel blutet, spüre aber nichts, nicht einmal ein Brennen.
    »Lass mich das desinfizieren«, sagt Philip.
    »Ich gehe aber nirgendwohin«, sage ich.
    Philip steht auf. »Du bist in den letzten Tagen wieder viel zu lange hier drinnen gewesen«, sagt er.
    Ich schaue zu ihm auf, und mir fällt nichts ein, was ich antworten könnte. Uns beiden ist bekannt, dass ich lieber nichts wüsste von den beigefarbenen Wänden, von den weißen Vorhängen, von der tristen Parkplatzaussicht. Ich schließe die Augen und drücke die Handballen gegen die Stirn. Seit Tagen habe ich Schmerzen im Kopf, die ich nicht einfach als Kopfschmerzen bezeichnen könnte: Manchmal schmerzt der Kiefer, manchmal
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