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Das Flüstern der Stille

Das Flüstern der Stille

Titel: Das Flüstern der Stille
Autoren: Ivonne Senn Heather Gudenkauf
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fürchterlichen Tag, ich war zwölf, kehrte ich von der Bücherei zurück, nachdem ich mich vor meinen Aufgaben auf der Farm gedrückt hatte, und mein Vater lehnte an dem hölzernen Zaun an der Ecke des Schweinestalls und erwartete meine Rückkehr. Sein normalerweise gelassenes Gesicht war verärgert, und er hatte die Arme vor der breiten Brust verschränkt. Mit unverwandtem Blick beobachtete er, wie ich näher kam, und er weckte den Wunsch in mir, die Bücher fallen zu lassen und ganz schnell fortzulaufen. Ich tat es nicht. Ich setzte meinen Weg fort bis zu der Stelle, wo er stand, und schaute auf meine Kirchenschuhe, verschmiert von Schmutz und Staub.
    „Martin“, sagte er mit einer tiefen Stimme, die ich nicht kannte. „Martin, schau mich an.“
    Ich hob den Blick und sah in seine Augen und fühlte das Gewicht seiner Enttäuschung auf mir ruhen. Ich dachte, ich könnte das Blut vom Schlachten noch an ihm riechen. „Martin, wir sind eine Familie. Und unser Geschäft ist nun mal die Schweinezucht. Ich weiß, dass du dich deswegen schämst …“
    Schnell schüttelte ich den Kopf. Das war nicht das, was ich dachte, aber ich wusste nicht, wie ich es ihm verständlich machen sollte. Er fuhr fort: „Ich weiß, dass dich der Dreck dessen, was wir tun, beschämt, und dass ich nicht sehr gebildet bin, beschämt dich ebenfalls. Aber das bin nun mal ich, ein Schweinefarmer. Und das ist auch das, was du bist. Zumindest im Moment. Ich kann deine hochtrabenden Bücher nicht lesen und verstehe einige der großen Worte, die du benutzt, nicht. Aber was ich tue, bringt Essen auf unseren Tisch und diese Schuhe an deine Füße. Du bist der Älteste, du musst mithelfen. Finde selber heraus, wie du helfen kannst, Martin, und sag es mir dann. Aber du musst deinen Anteil leisten. Du kannst nicht einfach in die Stadt laufen, wenn hier Arbeit zu tun ist. Verstanden?“
    Ich nickte, tief rot von der Hitze meiner eigenen Scham.
    „Denk darüber nach, Martin, heute Abend noch. Morgen früh sagst du mir dann, was du zu unserem Leben beitragen kannst.“ Dann ging er fort, den Kopf gesenkt, die Hände in die hinteren Taschen seiner Arbeitshosen gesteckt.
    In jener Nacht habe ich wenig geschlafen, habe versucht, einen Weg zu finden, meiner Familie nützlich zu sein. Ich wollte nicht auf meine jüngeren Geschwister aufpassen, und ich war auch nicht sehr begabt darin, Dinge herzustellen oder zu reparieren. Aber worin war ich gut? Das fragte ich mich die ganze Nacht. Ich konnte gut lesen und war gut im Rechnen. Das waren meine Stärken. Ich überlegte die ganze Nacht, und als mein Vater am nächsten Morgen erwachte, wartete ich bereits am Küchentisch auf ihn.
    „Ich glaube, ich weiß, wie ich helfen kann, Daddy“, sagte ich schüchtern und wurde von ihm mit einem strahlenden Lächeln belohnt.
    „Ich wusste, dass du etwas finden würdest, Martin“, erwiderte er und setzte sich neben mich.
    Ich erklärte es ihm detailliert, die Bücher der Farm, merkte so höflich wie möglich an, wie schlampig sie geführt waren und welche Ungenauigkeiten sie enthielten. Ich könnte helfen, sagte ich ihm, indem ich mich um das Geld kümmere. Ich würde Wege finden, mehr zu sparen und die Farm effizienter zu machen. Mein Plan gefiel ihm, und ich war stolz auf das Vertrauen, das er in mich setzte. Wir wurden nie ein richtig florierendes Unternehmen, aber unsere Lebensqualität verbesserte sich enorm. Wir konnten unsere Gerätschaften instand halten und ein Telefon installieren lassen; wir konnten uns für alle Kinder das ganze Jahr über Schuhe leisten, auch wenn ich weiterhin der Einzige blieb, der sie im Sommer trug. An einem Wintertag, als ich sechzehn war, kurz vor dem Geburtstag meines Vaters, fuhr ich mit dem Truck zu dem einzigen Warenhaus der Stadt, das alles von Lebensmitteln bis zu Werkzeugen führte. Ich verbrachte zweieinhalb Stunden damit, mir die beiden zur Verfügung stehenden Fernsehgeräte anzuschauen und die Vor- und Nachteile beider Modelle gegeneinander abzuwägen. Schlussendlich entschied ich mich für die Dreißig-Zentimeter-Variante mit Zimmerantenne. Sorgfältig in Decken eingehüllt stellte ich den Fernseher neben mich auf den Beifahrersitz und fuhr vorsichtig die gewundene Straße zurück zur Farm.
    Als mein Vater an diesem Abend ins Haus kam, nachdem er sich um die Schweine gekümmert hatte, saßen wir alle zusammen im Wohnzimmer, wir alle neun, und verdeckten den Blick auf sein Geburtstagsgeschenk.
    „Was ist hier los?“,
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