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Das Flüstern der Stille

Das Flüstern der Stille

Titel: Das Flüstern der Stille
Autoren: Ivonne Senn Heather Gudenkauf
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abzuschütteln, die in ihre Finger gekrochen war. Sie liefen in einer komischen Art von Gänsemarsch, Griff hinter ihr, seine Hand auf ihrer Schulter. Calli sackte unter dem Gewicht der fleischigen Hand ein wenig zusammen. Sie führte ihren Vater ungefähr hundert Meter aus Willow Wallow hinaus bis zu einem schmalen, gewundenen Weg, der Broadleaf genannt wurde. Calli konnte sehen, ob vor ihr schon jemand diesen Weg gegangen war. Während der Nacht spannten die Spinnen ihre Netze von Baum zu Baum. Wenn das Morgenlicht richtig stand, konnte man die hauchzarten Fäden sehen, eine zerbrechliche Barriere zwischen der Welt draußen und dem Innenleben des Waldes. „Betreten verboten“, schien die Barriere zu flüstern. Calli wich den fein gewobenen Netzen immer aus, versuchte, sie nicht kaputt zu machen. Wenn das Netz nur noch als zarte Fäden lose herabhing, wusste sie, dass schon jemand vor ihr da gewesen war, und wenn sie bei näherer Untersuchung Fußspuren von Menschen fand, zog sie sich zurück und suchte sich einen neuen Weg. Calli mochte die Vorstellung, dass sie meilenweit der einzige Mensch war. Dass das weiß gesprenkelte Erdhörnchen, das auf einem verrotteten Baumstamm saß und seine kleinen Hände wrang, in ihr sein erstes menschliches Wesen erblickte. Und dass es wusste, dass diese Kreatur mit den traurigen Augen hier nicht wirklich hergehörte, seine Welt aber nicht stören würde. Heute ging Calli vorsichtig um einen Rot-Ahorn herum, der Luftzug ließ das Spinnennetz für einen Moment gefährlich hin und her schwingen, bevor es sich wieder beruhigte.
    Eine Bewegung zu ihrer Rechten überraschte sie beide. Ein großer Hund mit goldrotem Fell sprang auf sie zu und schnüffelte an ihren Füßen. Calli streckte die Hand aus, um ihn zu streicheln, aber er lief schnell weiter und zog eine lange rote Leine hinter sich her.
    „Jesus!“, rief Griff aus und fasste sich an die Brust. „Hat mich fast zu Tode erschreckt, das Biest. Los, weiter.“
    Bei ihren Erkundungen des Waldes hatte Calli nur ein einziges Mal ein Tier Angst gemacht. Eine rußfarbene Krähe mit ihren glatten, öligen Federn, die in einem dunklen Ahornbaum saß und mit ihren schrillen Schreien das flüsternde Murmeln des Waldes übertönte. Calli hatte sich einen aus lauter Krähen bestehenden Hexenzirkel vorgestellt, der von seinem laubgeschützten Versteck auf sie herabschaute, die Augen der Krähen so klar und kalt wie Kugellager, beobachtend, abwägend. Die Vögel schienen ihr in einigem Abstand zu folgen, in lauten, tiefen Schwüngen. Calli schaute über sich. Keine Krähen. Dafür entdeckte sie eine einsame, grau gefiederte Spechtmeise, die auf der Suche nach Insekten einen Baumstamm hinunterhüpfte.
    „Bist du sicher, dass das der richtige Weg ist?“ Griff hielt an, unterzog seine Umgebung einer sorgfältigen Betrachtung. Seine Worte klangen klarer, weniger lallend.
    Calli nickte. Sie gingen noch ungefähr zehn Minuten, dann führte sie ihren Vater vom Broadleaf Trail weg ins Unterholz, wo die Brombeerbüsche dicht wuchsen und der Boden bedeckt war mit Walnussschalen. Sie hielt die Augen nach giftigem Efeu offen; als sie keinen fand, setzte sie ihren Weg fort. Plötzlich lichtete sich das Dickicht, und sie standen am Rand von Louis’ Garten. Das Gras war noch taufeucht, Baseballschläger, Handschuhe und anderes Spielzeug lagen wild verstreut um eine Schaukel. Ein grüner Van stand in der Einfahrt neben dem Holzhaus im Ranch-Stil. Alles war ruhig, abgesehen von den Honigbienen, die um einen wild wachsenden Busch Sommermargeriten summten. Das Haus schien zu schlafen.
    Griff sah aus, als ob er nicht wisse, was er als Nächstes tun sollte. Seine Hand auf Callis Schulter zitterte leicht; sie konnte die Bewegung durch ihr Nachthemd spüren.
    „Hab dir doch gesagt, dass ich dich zu deinem Vater bringe. Stell dir vor, du könntest in diesem schönen Haus wohnen.“ Griff lachte laut und rieb sich die rot unterlaufenen Augen. „Was meinst du, sollen wir hingehen und Guten Morgen wünschen?“ Sein vorheriges Gehabe fiel langsam von ihm ab.
    Kläglich schüttelte Calli den Kopf.
    „Lass uns gehen, ich hab Kopfschmerzen.“ Grob zerrte er an Callis Arm, da ließ ihn das Klappen einer Fliegentür innehalten.
    Eine Frau, barfuß, in Shorts und T-Shirt, trat aus dem Haus, ein schnurloses Telefon gegen ihr Ohr gedrückt. Ihre Stimme klang hoch und schrill. „Sicher, du springst, sobald sie ruft, wenn ihr kostbares Töchterchen
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