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Das Flüstern der Stille

Das Flüstern der Stille

Titel: Das Flüstern der Stille
Autoren: Ivonne Senn Heather Gudenkauf
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Rücken an eine der alten Weiden gelehnt, sein Kopf war auf die Brust gesunken, die Augen hatte er geschlossen, die kräftigen Finger immer noch um Callis Handgelenk geklammert. Calli rutschte unruhig auf dem unbequemen, harten Boden hin und her. Der Geruch von Urin stach ihr in die Nase, und eine Welle der Scham überflutete sie. Ich sollte weglaufen, dachte sie. Sie war schnell und kannte jede Ecke und jeden Winkel des Waldes; es wäre ein Leichtes, ihrem Vater zu entkommen. Langsam versuchte sie, ihren Arm aus seinem eisernen Griff zu lösen, aber in seinem unruhigen Schlaf packte er nur noch fester zu. Calli sackte entmutigt zusammen und lehnte sich wieder gegen ihre Seite des Baumstamms.
    Sie mochte es, sich vorzustellen, wie es wäre, ohne jegliche Vorräte im Wald zu überleben; etwas, das Ben „das wahre Abenteuer“ nannte. Ben wusste alles über die Willow Creek Woods. Er wusste, dass der Wald über fünfeinhalbtausend Hektar groß war und bis in zwei Countys hineinreichte. Er hatte ihr erzählt, dass der Wald hauptsächlich aus Kalkstein und Sand bestand und Teil des Paläozoischen Plateaus war, was bedeutete, dass die Gletscher niemals durch diesen Teil Iowas gewandert waren. Er hatte ihr auch gezeigt, wo sie den Rotschulterbussard finden konnte, eine bedrohte Vogelart, die sogar Ranger Phelps noch nie gesehen hatte. Doch jetzt war sie erst seit ein paar Stunden hier draußen, und schon wollte sie nach Hause. Normalerweise war der Wald ihr Lieblingsplatz, ein ruhiger Ort, an dem sie denken, wandern und Neues entdecken konnte. Sie und Ben hatten oft so getan, als würden sie ihr eigenes Camp hier in Willow Wallow aufschlagen. Ben schleppte dann eine Thermoskanne voll Wasser herbei, während Calli die Snacks – Tüten mit salzigen Chips und dicken Lakritzstangen – mitbrachte. Später schichtete Ben Stöcke und Reisig zu einem großen, runden Haufen auf und begrenzte ihn mit einem Kreis aus Steinen, so als ob er ein Lagerfeuer machen wolle. Sie machten nie wirklich Feuer, aber es war lustig, so zu tun als ob. Sie steckten Marshmallows auf grüne Äste und „rösteten“ sie über ihrem Feuer. Ben holte dann immer sein Taschenmesser hervor und versuchte, aus kleinen Ästen Besteck zu schnitzen. Er hatte zwei Löffel und eine Gabel geschnitzt, bevor die Klinge abrutschte und er sich in die Hand schnitt; er musste mit sechs Stichen genäht werden. Danach hatte ihre Mutter ihm das Messer weggenommen und gesagt, dass er es in ein paar Jahren wiederhaben könne. Ben hatte es nur widerwillig abgegeben. In letzter Zeit waren sie dazu übergegangen, anstatt Besteck zu schnitzen, Teller und echtes Besteck aus der Küche hinauszuschmuggeln. Unter der größten aller Weiden hatte Ben aus alten Brettern ein Regal gebaut und an den Baumstamm genagelt. Da bewahrten sie ihre Küchenutensilien auf. Einmal – sie hatten versucht vorauszuplanen – hatten sie eine Tüte Cracker und eine Packung Kekse auf das Regal gestellt. Als sie ein paar Tage später wiederkamen, stellten sie fest, dass schon jemand vor ihnen dagewesen sein musste. Vermutlich ein Waschbär, hatte Ben gemeint, vielleicht aber auch ein echter Bär. Calli hatte ihm nicht wirklich geglaubt, aber es hatte Spaß gemacht, sich vorzustellen, wie Mama-Bär irgendwo da draußen ihre Jungen mit Chips und Keksen fütterte.
    Sie fragte sich, ob ihrer Mutter inzwischen aufgefallen war, dass sie weg war. Ob sie sich Sorgen machte, sie suchte? Callis Magen knurrte, und schnell drückte sie ihre freie Hand an den Bauch, um ihn zum Schweigen zu bringen. Vielleicht war in dem Regal zwei Bäume weiter noch etwas zu essen. Griff schnarchte, seine Augenlider flatterten, dann schaute er Calli an.
    „Du stinkst“, sagte er gemein, weil er sich seiner eigenen Ausdünstungen nach Alkohol, Schweiß und Zwiebeln wohl nicht bewusst war. „Komm, wir gehen weiter. Wir werden heute noch auf einer kleinen Familienzusammenführung erwartet. Wo geht’s lang?“
    Calli dachte darüber nach. Sie könnte lügen, könnte ihn tiefer in den Wald lotsen und sich, sobald sie eine Chance bekam, losreißen; oder sie könnte ihm den richtigen Weg zeigen und es hinter sich bringen. Die zweite Möglichkeit gewann. Sie war hungrig und müde, und sie wollte endlich nach Hause. Sie zeigte mit einem kleinen, schmuddeligen Finger auf den Weg, den sie gekommen waren.
    „Los, steh auf“, befahl Griff.
    Sie rappelte sich auf, Griff ließ ihren Arm los, und Calli versuchte, die Taubheit
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