Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Flüstern der Stille

Das Flüstern der Stille

Titel: Das Flüstern der Stille
Autoren: Ivonne Senn Heather Gudenkauf
Vom Netzwerk:
vertraut, und als Fielda anfing, die gleichen kräftigen, Angst einflößenden Schreie von sich zu geben, wurde mir etwas schwindelig. Ich musste den Raum kurz verlassen. Als ich jung war, hat meine hochschwangere Mutter ihre hausfraulichen Pflichten stets mit der gleichen Sorgfalt erledigt. Ich erinnere mich aber daran, wie sie sich eines Tages an der Arbeitsfläche festklammerte, als die Wehen sie überfielen. Als ihr stolzes, ernstes Gesicht sich unter dem Schmerz verzerrte, wurde ich zum Haus meiner Tante geschickt, um sie und meine Großmutter zu holen, damit sie bei der Geburt halfen. Ich bin die achthundert Meter gelaufen, dankbar, der angespannten Atmosphäre in unserem sonst so wohl organisierten Haus für eine Weile zu entkommen.
    Es war Sommer, und ich lief barfuß, die Sohlen meiner Füße waren hart und verhornt. Unempfindlich gegen Dreckklumpen und Steine, konnte ich den Boden unter mir kaum noch fühlen. Ich hätte lieber Schuhe getragen, aber meine Mutter erlaubte mir das nur am Sonntag und für die Schule. Ich hasste es, dass alle Leute meine entblößten Füße sehen konnten, den Dreck unter den Zehennägeln. Ich hatte die Angewohnheit, auf einem Bein zu stehen. Meine Zehen krümmte ich zusammen, sodass nur ein dreckiger Fuß zu sehen war. Meine Großmutter lachte darüber und nannte mich „Storch“. Meine Tante fand es auch sehr amüsant, vor allem, wenn ich sie holen kam, um meiner Mutter zu helfen, ein weiteres Kind zur Welt zu bringen. Ein volltönendes, bellendes Lachen entfuhr ihr; es klang so angenehm in meinen Ohren, dass auch ich nicht anders konnte, als zu lächeln, auch wenn der Spaß auf meine Kosten ging. Wir kletterten dann gemeinsam in den rostigen Ford meiner Großmutter und fuhren zurück zur Farm. Wir kamen am Schweinestall vorbei, und mein Vater winkte uns zu und lächelte strahlend. Wir waren das Zeichen, dass bald ein neuer Sohn oder eine neue Tochter geboren wurde.
    Von meiner Herkunft war ich ein Farmersjunge, aber die Details eines Farmbetriebs interessierten mich überhaupt nicht. Ich mochte Bücher und Zahlen. Mein Vater, ein einfacher, gütiger Mann, schüttelte stets den Kopf, wenn ich kein Interesse für die ferkelnde Sau zeigte, aber trotzdem musste ich meinen Beitrag zur täglichen Arbeit leisten. Die Ställe ausmisten und Eimer mit Futterbrei zu den Schweinen bringen waren nur einige davon. Aber ich weigerte mich, beim Schlachten mitzumachen. Der Gedanke daran, ein lebendiges Wesen zu töten, machte mich krank, auch wenn ich keine Probleme damit hatte, das Fleisch zu essen. Am Schlachttag war ich immer spurlos verschwunden. Ich nahm meine Schuhe aus dem Schrank, band sie ordentlich, bürstete den Schmutz ab und ging die fünf Kilometer in die Stadt. Am Ortsrand spuckte ich in die Finger und beugte mich hinunter, um den Staub und Dreck von den Schuhen abzuwischen. Ich überprüfte noch einmal, ob ich meinen Büchereiausweis dabeihatte, zerknittert und ganz dünn vom vielen Gebrauch, bevor ich die Bücherei betrat. Da verbrachte ich dann Stunden damit, etwas über Münzsammlungen und Geschichte zu lesen. Die Bibliothekarin kannte mich mit Namen und legte oft Bücher zurück, von denen sie wusste, dass sie mich interessieren würden.
    „Und mach dir keine Gedanken, dass du sie in zwei Wochen wieder zurückbringen musst“, sagte sie konspirativ, wenn sie mir die Bücher übergab, die sorgfältig in der Jutetasche verstaut waren, die ich immer mitbrachte. Sie wusste, dass es schwierig für mich war, alle paar Wochen in die Stadt zu kommen, aber oft fand ich eben doch einen Weg.
    Ich schlich zurück zur Farm, das Schlachten war für den Tag erledigt, und mein Vater erwartete mich auf der vorderen Veranda, rollte seine Zigarette zwischen den Fingern und trank Eistee, den meine Mutter für ihn gemacht hatte. Ich staunte immer wieder über seine Größe, wenn ich mich langsam dem Haus näherte und wusste, dass mich eine Enttäuschung erwarten würde. Mein Vater war ein enormer Mann, sowohl von seiner Größe als auch der Breite; die Knöpfe seines Hemdes spannten sich über der Wölbung seines Bauchs. Leute, die ihn nicht kannten, schreckten vor seiner mächtigen Erscheinung zurück, wurden aber schnell von seinen sanften Manieren angezogen, wenn sie ihn erst einmal kennengelernt hatten. Ich kann mich nicht erinnern, dass mein Vater auch nur ein einziges Mal seine Stimme erhoben hat, weder meiner Mutter noch mir oder meinen Geschwistern gegenüber.
    An einem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher