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Das Flüstern der Stille

Das Flüstern der Stille

Titel: Das Flüstern der Stille
Autoren: Ivonne Senn Heather Gudenkauf
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Griff ist mit Roger angeln gefahren. Kein Donner, ein Truck? Ich rolle mich auf Griffs Seite, genieße die Kühle seines Lakens und versuche zu schlafen, aber das anhaltende Hämmern, ein heftiges Klopfen an der Haustür, vibriert durch die Bodendielen bis zu mir hinauf. Irritiert schwinge ich meine Beine aus dem Bett. Es ist erst sechs Uhr morgens, um Himmels willen. Ich ziehe die Shorts an, die ich am Abend vorher auf den Boden habe fallen lassen, und fahre mit den Fingern durch mein zerwühltes Haar. Als ich durch den Flur gehe, sehe ich, dass Bens Tür fest geschlossen ist, wie immer. Bens Zimmer ist seine persönliche Festung; ich versuche gar nicht erst, hineinzugehen. Die einzigen Leute, die er einlädt, sind seine Schulfreunde und seine Schwester Calli. Was mich überrascht. Ich bin in einer Familie mit vier Brüdern aufgewachsen, und sie haben mich nur in ihre Zimmer gelassen, wenn ich mich mit Gewalt hineingedrängt habe.
    Mein ganzes Leben lang bin ich von Männern umgeben; meine Brüder, mein Vater, Louis und natürlich Griff. Die meisten meiner Freunde in der Schule waren Jungs. Meine Mutter starb, als ich siebzehn war, und selbst davor hielt sie sich nur am Rande unserer Gemeinschaft auf. Ich wünschte, mehr darauf geachtet zu haben, wie sie die Dinge tat. Ich habe verschwommene Erinnerungen daran, wie sie dasaß, immer im Rock, ein Bein über das andere geschlagen, ihre braunen Haare in einem eleganten Knoten zusammengefasst. Sie hat es nie geschafft, mich in ein Kleid zu stecken, mich für Make-up zu interessieren oder dafür, wie eine Dame sitzt. Aber sie bestand darauf, dass ich mein Haar lang trug. Ich habe dagegen rebelliert, indem ich es zu einem Pferdeschwanz band und unter einer Baseballkappe versteckte. Ich wünschte, ich hätte genauer zugesehen, wie sie sorgfältig Lippenstift auftrug und genau die richtige Menge Parfüm an ihre Handgelenke sprühte. Ich erinnere mich, wie sie sich nah zu meinem Vater beugte und ihm etwas ins Ohr flüsterte, was ihn lächeln ließ. Wie sie ihn mit nur einer leichten Berührung ihrer manikürten Hand auf seinem Arm zur Ruhe bringen konnte. Mein eigenes, schweigsames kleines Mädchen ist ein noch viel größeres Mysterium für mich. Wie sie es mag, die Haare nach dem Bad gekämmt zu bekommen, ihre Freude, wenn sie ihre Nägel betrachtet, nachdem ich sie ungeschickt lackiert habe. Ein kleines Mädchen zu haben ist für mich, wie einer alten Schatzkarte zu folgen, auf der die Hauptwege unkenntlich gemacht worden sind. In letzter Zeit sitze ich oft da und beobachte sie, studiere jede ihrer Bewegungen und Gesten. Als sie noch gesprochen hat, konnte sie mir wenigstens sagen, was sie wollte oder was sie brauchte; jetzt rate und taste ich und hoffe auf das Beste. Ich tue einfach so, als ob nichts mit meiner Calli wäre, als ob sie eine ganz normale Siebenjährige sei, Fremde sich nicht in Schulbüros über sie austauschten, Nachbarn nicht hinter vorgehaltener Hand über das komische Clark-Mädchen tuschelten.
    Die Tür zu Callis Zimmer steht einen Spalt offen, aber das Hämmern unten an der Tür ist eindringlich, also haste ich die Treppe hinunter, das verzogene Holz knarrt unter meinen bloßen Füßen. Ich schließe die schwere Eichentür auf und stehe Louis und Martin Gregory, Petras Vater, gegenüber. Louis ist das letzte Mal vor drei Jahren in meinem Haus gewesen, auch wenn ich mich kaum daran erinnern kann, weil ich beinah bewusstlos neben meinem Sofa gelegen habe, nachdem ich die Treppe hinuntergefallen war.
    „Hi“, sage ich unsicher. „Was ist los?“
    „Toni“, fängt Louis an, „ist Petra hier?“
    „Nein“, erwidere ich und schaue zu Martin. Er verliert für einen Moment die Kontrolle über seine Gesichtszüge, dann hebt er das Kinn.
    „Können wir mit Calli sprechen? Petra scheint …“ Martin zögert. „Wir können Petra nicht finden und dachten, dass Calli uns vielleicht sagen kann, wo sie ist.“
    „Ach, du meine Güte, natürlich. Bitte, kommt doch rein.“ Ich führe sie ins Wohnzimmer und bin mir plötzlich der leeren Bierdosen auf dem Couchtisch bewusst. Ich sammle sie rasch ein und eile in die Küche, um sie wegzuwerfen.
    „Ich gehe nur schnell hoch und wecke Calli.“ Ich nehme zwei Stufen auf einmal, mein Magen krampft sich aus Mitgefühl für Martin und Fielda zusammen. Ich rufe: „Calli! Calli, steh auf, Liebling, ich muss mit dir reden!“ Als ich den Flur erreiche, öffnet Ben seine Tür. Er trägt kein T-Shirt, und mir fällt
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