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Das Festmahl des John Saturnall

Das Festmahl des John Saturnall

Titel: Das Festmahl des John Saturnall
Autoren: Lawrence Norfolk
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verängstigt.
    »Er wird nichts erfahren«, erklärte Ephraim den anderen. »Nimm den Sack, Abe. Mach schon. Los, lauft!«
    Sie trampelten den Weg entlang davon. John lag auf dem Boden, von heißer Scham durchwallt. Ephraim hatte recht, dachte er. Oder sein Vater mit der finsteren Miene. Sie gehörten nicht hierher. Sie hätten nie zurückkommen sollen ... Er würde nächste Woche nicht in den Gottesdienst gehen, dachte er sich. Sollte seine Mutter sagen, was sie wollte. Er würde weglaufen. Dorthin, von wo sie zurückgekommen waren.
    Blut rann ihm im Hals hinunter und schmeckte metallen und heiß. Er schluckte und spürte, wie die Luft mühsam in seine Lungen drang. Er kroch zu dem Steintrog und sah hinein.
    Seine Haut war dunkler als die der anderen Jungen, sein Haar schwarz und lockig, während ihres rot oder braun oder hell war. Seine Augen waren so dunkel wie die seiner Mutter. Oder die seines Vaters, fiel ihm ein. Wer immer es sein mochte. Er spritzte sich kaltes Wasser über den Kopf und verrieb es. Er spie aus und sah, wie lange rote Speichelfäden aus seinem Mund troffen. Als er mit der Zunge seine Mundhöhle erkundete, erklang oberhalb von ihm eine helle Stimme.
    »Hexen bluten nicht.«
    Ein Mädchen blickte von der Böschung herab; das sommersprossige Gesicht rahmte eine weiße Haube. Erschrocken sah John in die blauen Augen von Abel Starlings Schwester Cassie.
    »Ich bin keine Hexe«, brachte er heraus.

    »Das weiß ich.«
    Sie war ein Jahr älter als er. Mit hoher, heller Stimme sang sie laut im Gottesdienst. Sie besuchte Aufseher Marpots sonntägliche Bibelstunden. Das war alles, was John wusste. Doch nun sprach Cassie Starling mit ihm. Zu seinem Entsetzen merkte John, dass er blinzeln musste, um die Tränen zurückzuhalten.
    »Komm hoch«, befahl das Mädchen.
    John kletterte hinauf. Oben erstreckte sich weithin das ungemähte Gras der Wiese. Zur Rechten stand eine Gruppe Buchen. Vor ihnen stiegen die Terrassen in großen ungefügen Stufen an. Hohes Unkraut und Gebüsch überwucherten die unteren Stufen, dichtes Gestrüpp und Stechginster versperrten den Zugang zu den oberen. Ganz oben bildeten Brombeerhecken einen undurchdringlichen Wall vor Bucclas Wald.
    »Die Gottlosen grünen wie das Gras. Sagt der alte Holy, weißt du noch?«
    John nickte. Es war eine der Lieblingsstellen des Priesters. Das Mädchen schürzte die Lippen und sah John an. Eine Haarsträhne hatte sich gelöst.
    »Kannst du zählen?«
    Sie wand die blonde Strähne um ihren Finger. John nickte wieder.
    »Gut«, sagte das Mädchen und deutete auf ein Grasbüschel. »Setz dich da hin.«
    Ein wenig später streckte John vorsichtig die Hand zu Cassies Gesicht aus. »Eins«, sagte er.
    »Weiter.«
    »Zwei, drei, vier ...«
    Er konnte Cassies Haar und die Wolle ihres Kleides riechen. Ihr Atem roch nach Erdbeeren. Sein Herz pochte, als das Mädchen die lange blonde Strähne um den Finger wickelte und wieder ablöste. Der Fingernagel war schwarz verfärbt, sah er.
    » ... neunundzwanzig, dreißig ...«
    Er zählte ihre Sommersprossen. Er arbeitete sich die eine Wange hoch, über die Stirn und die andere Wange hinunter. Cassie kicherte und
blinzelte dann, als er mit dem Finger die Haut um ihre Augen berührte. Die Gerüche der Wiesengräser durchzogen die Luft. Als er ihre weiße Baumwollhaube erreichte, zog sie die lange Nadel heraus und schüttelte ihr Haar. Er zählte um ihren Mund herum weiter. »... achtundvierzig, neunundvierzig ...«
    Als er sich ihren Lippen näherte, hielt sie plötzlich seinen Finger fest; mit der Schnelligkeit ihrer Handbewegung hatte er nicht gerechnet. Oder mit der Festigkeit ihres Griffs. Der Bluterguss unter ihrem Fingernagel verfärbte sich dunkler.
    »Weißt du, was Sommersprossen bedeuten?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Es sind Sünden.«
    Cassie sei nicht ganz bei Trost, hatte Abel einmal gesagt. Seit ihre kleine Schwester gestorben war, Mary Starling. Über den Bäumen stieg gekräuselter Rauch in den wolkenlosen Himmel. Seine Mutter würde warten, fiel ihm ein.
    »Die erste Hexe war Eva«, sagte Cassie. »Gott sandte sie, um Adam zu prüfen. Als sie ihm den Apfel gab. Und uns hat er auch eine Hexe gesandt.«
    John dachte an den Wald, die Luft voll Baumblütenduft, die herauswehte. »Aber hier gibt es keine Hexe, oder?«, sagte er. »Sankt Clod hat ihr den Garaus gemacht, oder?«
    »Eine Hexe sieht nicht anders aus als du oder ich«, antwortete Cassie. »Nicht äußerlich.«
    »Und woran erkennt man
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