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Das Festmahl des John Saturnall

Das Festmahl des John Saturnall

Titel: Das Festmahl des John Saturnall
Autoren: Lawrence Norfolk
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das Dickicht. Dann verengte sich der Pfad und endete an einer undurchdringlichen Barriere aus Brombeerranken. Vor einem alten Staketenzaun, in den ein Kreuz geschnitten war, blieb seine Mutter stehen.
    So hoch war er noch nie gestiegen. Jenseits des Dornendickichts ragten düster die Bäume von Bucclas Wald auf. Er hörte die schweren Kronen der Kastanien rauschen, die Blätter tausendfach leise rascheln. Von weit unten drang der Singsang der Meute herauf.
    Taube aus dem Taubenschlag, Amsel aus dem Graben,
Komm raus, du Hexe, sollst dich auch an der Pastete laben!
    »Das ist nur das Bier«, sagte seine Mutter. Sie sah in sein besorgtes Gesicht. »Wenn sie das Fass geleert haben, ist das ihr Zeitvertreib.«
    John erinnerte sich an die anderen Male: rote grölende Gesichter, halbtrunkene Männer mit bellenden Hunden. Und er hatte sich an die Röcke seiner Mutter geklammert. Bisher hatte sie ihnen immer die Stirn bieten können. Doch an diesem Abend hatte der Singsang drohender geklungen als sonst.
    »Sie sind von Marpots Haus gekommen«, sagte er zu seiner Mutter.
    »Ist das wahr?«
    Er starrte sie an. Sie wusste es so gut wie er. Die Dörfler hatten sich versammelt, um für die Seele der kleinen Mary Starling zu beten. Und dann waren sie zur Wiese marschiert. Und nun umringten sie die Hütte und sangen.

    Fische aus dem Teich! Aale aus dem Fluss!
Komm raus, du Hexe ...
    Plötzlich löste sich eine schwarzgekleidete Gestalt aus dem Meer flammendroter Gesichter und kletterte auf das Strohdach. John hörte den Atem in der Kehle seiner Mutter rasseln, als käme ein Hustenanfall. Die Gestalt hielt eine brennende Fackel in der Hand. Als sie sie schwenkte, schwoll das Gebrüll der Menge an. Johns Herz begann wieder zu pochen. Er sah seine Mutter die Hand vor den Mund halten.
    »Nein«, flüsterte sie. »Das wagen sie nicht.«
    Doch jede Bewegung brachte die Fackel näher an das Dach. Alles, was sie besaßen, befand sich in der Hütte, dachte John. Der Strohsack, die Truhe, die Töpfe und Flaschen und Krüge seiner Mutter ... Plötzlich zeigte sich ein weißer Haarschopf am Rand der Meute. John zog am Rock seiner Mutter.
    »Sieh, Ma! Der alte Holy!«
    Erleichterung durchdrang ihn, als der Priester sich einen Weg bis in die Mitte der Dörfler bahnte. Von hoch oben sah John, wie die Arme des Priesters sich bewegten, während er den Nahestehenden Kopfnüsse verpasste. Der Fackelträger sprang vom Dach. Die Schreihälse verstummten und wichen zurück. Die Fackeln zerstreuten sich.
    »Das wird ihnen eine Lehre sein«, sagte John.
    »Glaubst du?«, flüsterte seine Mutter.
    Sie ließ die Tasche mit dem Buch zu Boden sinken. John spürte ihre Hand, die seine Haare streichelte, ihre Finger, die seine dichten schwarzen Locken entwirrten. Er sah zu der dunklen Linie der Bäume hinauf und sog langsam die Luft ein, atmete Bärlauch, vermoderte Blätter, einen Fuchsbau irgendwo und einen süßeren Geruch. Obstbaumblüten, dachte er. Dann wurde dieses kleine Rätsel von einem größeren überschattet. Ein befremdlicherer Geruch hing zwischen dem der Blüten, süß und harzig zugleich. Lilien, dachte John und atmete den Geruch aufmerksamer. Lilien, mit Teer gemischt.
    »Was schnüffelst du?«, fragte seine Mutter lächelnd.

    Er erwiderte ihr Lächeln. Er habe einen Dämon in der Kehle, sagte sie oft. Einen Dämon, der jeden Geruch der Schöpfung kenne. Wenn er die herben Säfte und süßen Blütendüfte einatmete, spürte er, wie sie sich in ihm verfestigten, ihre unsichtbaren Spuren um ihn herum ausbreiteten. Doch hier war ein Geruch, dem sein Dämon noch nie begegnet war. Er hob den Blick zu den Bäumen von Bucclas Wald.
    »Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich. Seine Mutter strich sich die langen schwarzen Haare aus dem Gesicht.
    »Sag ihnen nicht, dass du hier oben warst, John. Verstanden?«
    Er nickte. Natürlich wusste er Bescheid. Sankt Clodock hatte Gott einen Eid geschworen, so hieß es in der Überlieferung. Er war von Zoyland aufgebrochen und hier hinaufgekommen, um die Tische der Hexe zu zerschlagen. Er hatte das Feuer von ihrem Herd genommen und hatte ihre Gärten verwüstet. Er hatte das Tal für Gott zurückerobert.
    Aber Buccla war noch immer dort oben, sagten die Dörfler. Sie und ihr Hexensabbat. Und sie war noch immer hungrig ...
    Es war nur eine alte Geschichte, dachte John. So wie das Grölen der Dörfler nur ihr Zeitvertreib war. Doch das war gewesen, bevor Aufseher Marpot in das Dorf gekommen war. Er war
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