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Das Festmahl des John Saturnall

Das Festmahl des John Saturnall

Titel: Das Festmahl des John Saturnall
Autoren: Lawrence Norfolk
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wusste er. Danach Schweigen. So endeten ihre Streitigkeiten immer. Sie verflogen wie der Dampf aus ihrem Kessel ... Doch nun sah er, wie ihre Stirn sich umwölkte.
    »Mehr, als du weißt«, sagte sie. Dann erhob sie sich zu seiner Überraschung, trat zum Herd und streckte die Hand nach oben. Als sie sich umdrehte, hielt sie das Buch in Händen. Sie legte es auf die Truhe und sah zu ihm hinüber. »Schlag es auf.«
    War das eine List?, fragte er sich. Ein neues Rätsel, um ihn zu verwirren? Als er den ledergebundenen Einband aufschlug, stieg der modrige Geruch von Papier auf. Er blätterte die erste stockfleckige Seite um und blickte auf ein kunstreich gezeichnetes Bild. Ein überfließender Kelch war mit gewundenen Reben und Traubenbüscheln geschmückt. Doch anstelle von Wein oder Wasser füllten Wörter diesen Kelch.
    John starrte auf die unvertrauten Symbole. Er konnte nicht lesen. Um den Kelch herum wuchs ein merkwürdiger Garten. Honig tropfte aus Bienenkörben, und Blumen, die wie Krokusse aussahen, sprossen unter Bäumen mit gedrungenen Stämmen. Weinreben schlangen sich umeinander, strotzten vor Blättern und neigten sich unter der Last der Trauben. Im fernen Hintergrund machte John ein Dach mit hohem Schornstein aus. Seine Mutter setzte sich neben ihn.
    »Palmen«, sagte sie. »Das sind Dattelpalmen. Honig kam aus den Bienenkörben und Safran von diesen Blumen. An den Rebstöcken reiften saftige Trauben ...«
    Sie sprach wie im Selbstgespräch, als wiederholte sie Worte, die sie vor langer Zeit gelernt hatte, und ihre Finger bewegten sich von den
verblichenen Symbolen zu den Bildern von Pflanzen und Früchten und zurück. Dabei lächelte sie in sich hinein, hielt dann inne und blätterte weiter.
    Es sah aus wie ein anderes Buch. Die Tinte war kräftiger, das Papier weniger stockfleckig. Da waren wieder die Palmen und die Krokusse und die Rebstöcke, aber diesmal mit all ihren Verwandten. Blumen, die John von den Wiesen kannte, blühten neben Büschen, deren Früchte er noch nie gesehen hatte. Kriechstauden wanden sich wie Schlangen zwischen Monstrositäten, die es in der Natur zweifellos nie gegeben hatte. Und dennoch war jede Ader jedes Blatts oder Blütenblatts so genau dargestellt, als wäre sie nach dem Leben gezeichnet. Jeder Stengel war mit winzigen stacheligen Buchstaben beschriftet. Es folgten weitere ähnliche Seiten. Dann kam wieder das alte Buch mit seiner verblassten Tinte. Diesmal erhob sich ein blasser Wald von dem stockfleckigen Papier.
    »Diese Seiten wurden vor sehr langer Zeit geschrieben«, sagte seine Mutter, die auf die Baumstämme und Äste hinuntersah. »Geschrieben und abermals geschrieben. Lange vor deiner und meiner Zeit.«
    »Was bedeuten sie?«, fragte John, der die Bäume betrachtete.
    »Jede Seite war ein Garten. Und jeder Garten ...«
    Dampf aus dem Kessel, dachte er, als sie verstummte. Doch mittlerweile fesselten ihn die Bilder. Vögel flogen oder nisteten in den Zweigen; Kiebitze, Lerchen und Tauben neben anderen Vögeln, die John nicht benennen konnte. Sie hielten Wörter im Schnabel und flatterten aus ihrem Garten in den Baumwipfeln. Das Gebäude war wieder zu sehen, größer diesmal, aber von den Baumstämmen verdeckt. Der Schornstein lugte über die Wipfel. Dann kamen wieder kräftigere Seiten. Es sah aus, als wären sie im Nachhinein den älteren Seiten als Bebilderung hinzugefügt worden. Die neuen Seiten zeigten Vögel vom großen Adler bis zum Feigenfresser. John blätterte weiter zu einem Bild, auf dem Fische aus einem Fluss sprangen. Jede Schuppe enthielt ein Wort, und Zeilen spannten sich von Fischleib zu Fischleib. Am hinteren Ufer erhob sich das Gebäude. Das nächste Bild zeigte ein Meeresufer voll winziger dahineilender Krebse. Nun sah er, wie groß das Gebäude war: ein
Herrenhaus mit hohen gewölbten Fenstern. Der Schornstein war ein gewaltiger Turm. Dann kamen Obstgärten voller Kirschen, Äpfel und Birnen, die Bäume in einem Gittermuster gepflanzt. Und da waren wieder die hohen gewölbten Fenster und der Schornstein. Fast ein Palast, dachte John. Aber wer wohnte dort?
    Eine befremdliche Pflanzung zog an Johns Blick vorbei. Tief in seiner Kehle regte sich sein Dämon, als könnte er den Blütenduft riechen oder die Früchte schmecken. Jede nur denkbare Pflanze und jedes Tier gedieh hier, dachte er, Wirkliches und Phantastisches eng zusammengedrängt. Doch noch immer stiegen Dampfwölkchen aus dem Kessel. Die fremden Gärten erklärten ihm ebensowenig
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