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Das Erwachen

Das Erwachen

Titel: Das Erwachen
Autoren: William Horwood
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einem Mal hatte er das Gefühl, etwas tun zu müssen. Woher dieser Antrieb kam, wusste er nicht, aber er spürte ihn tief in seinem Innern, als käme er aus einem ererbten Teil seiner selbst, der so alt war wie seine Art.
    Sie waren beschenkt worden. Es wurde Zeit, das Geschenk zu erwidern und dem weißen Pferd dafür zu danken, dass es sie heimgeführt hatte.
    Er hatte häufig solche Gefühle und wusste, dass sie anderen Ursprungs waren als die Instinkte, die Katherine manchmal leiteten.
    »Das kommt daher, dass du ein Riesengeborener bist«, sagte Katherine immer. »Eines Tages wirst du stolz darauf sein!«
    »Riesengeborener« war ein Hyddenwort für einen genetischen Sonderling, der Gene von Menschen wie auch von Hydden im Blut trug. Ein Hydden von Geburt, jedoch dazu verdammt, zu menschlicher Größe heranzuwachsen und ein Riese zu werden, ein Außenseiter in der Welt, in die er eigentlich gehörte.
    Aus diesem Grund hatte man ihn – wer genau, das wusste er nicht mehr – fortgeschickt, als er sechs Jahre alt gewesen war, damit er zu seinem eigenen Schutz als Mensch erzogen wurde.
    Erst als er durch Zufall herausgefunden hatte, dass Henges Portale zwischen den beiden Welten waren, hatte er erkannt, dass er in beiden leben konnte, denn beim Übertritt nahm er normale Hyddengröße an.
    Von alldem hatte er nichts geahnt, bis er mit Katherine nach Hyddenwelt gereist war. Da erst ergab alles einen Sinn: sein Verständnis für die Gebräuche der Hydden, sein Gespür für verborgene Gefahren, seine Geistesgegenwart, seine tiefe Ehrfurcht vor Erde und Universum, seine Fähigkeit, sich zu verbergen, und selbst seine Liebe zur Musik der Hydden.
    Daher wusste er, dass der Fuchs nicht zufällig gekommen, sondern von einem Gott oder Geist der Hydden gesandt worden war, damit sie dem weißen Pferd ein Dankopfer darbringen konnten. Der Fuchs war ein Freund, kein Feind, obgleich er immer noch Jäger war.
    »Ich werde euch jetzt waschen«, sagte er leise zu Katherine, »und danach habe ich etwas zu tun. Bleib hier liegen. Judith schläft. Sie wird in den nächsten Stunden deine Wärme und Nähe brauchen, mehr als ein normales Kind ...«
    Er wusste, dass es so war, nicht aber, woher oder warum er es wusste.
    Bei dem Wort »normal« zuckte Katherine besorgt zusammen.
    »Pst!«, flüsterte er, »es geht ihr gut ...«
    Er setzte sich auf, drehte sich langsam um und spähte zu dem Fuchs. Das Tier beobachtete sie noch, und Jack war darüber froh. Er musste es sein.
    Er nahm die lederne Wasserflasche aus seinem Rucksack und wusch sich die Hände. Katherine hatte stets großen Wert darauf gelegt, dass sie Wasser und saubere Kleidung mit sich führten.
    »Nur für den Fall, dass es draußen geschieht und wir allein sind ... dann musst du auch ...«
    Er wusste, was zu tun war. Erst als Katherine und das Kind vom gröbsten Schmutz befreit waren, tat er, was der Instinkt ihm eingab. Er griff nach der Plazenta, die er beiseitegelegt hatte. Sie war jetzt kalt und wegen des Wassers an seinen Händen auch wieder glitschig.
    Er kniete sich hin, nahm sie in beide Hände, stand vorsichtig auf, damit sie ihm nicht entglitt, und trug sie zur Mitte des Henges. Der Mond stand jetzt dicht über den Wipfeln des Baumkreises, die letzten Sterne und Planeten leuchteten am Himmel.
    »Heute ist der erste Maitag«, flüsterte er. »Sommeranfang. Aber noch wichtiger ist, dass die Schildmaid geboren wurde und der verlorene Stein bald gefunden wird.«
    Er reckte die Plazenta den Sternen entgegen, drehte sich dreimal im Uhrzeigersinn, flüsterte Worte, die von der Erde und dem Universum erzählten, und legte die Plazenta schließlich mitten ins Gras, das er niedergetreten hatte.
    Dann kehrte er zu Katherine zurück. »Ich muss sie dir für einen Moment abnehmen«, sagte er leise. »Ich muss dem weißen Pferd danken und es bitten, ihr auf der Reise, die sie heute antritt, beizustehen ... Alles ist gut ... Pst! Ich werde nur da drüben sein. Ich habe noch etwas zu tun ...«
    Er nahm ihr das schlafende Kind aus den Armen.
    Beim Anblick von dessen Schönheit füllten sich seine Augen mit Tränen, die im Dämmerlicht glitzerten.
    »Komm, Judith«, sagte er. »Es wird Zeit, dass du guten Tag sagst.«
    Er kehrte zu der Stelle zurück, an der er die Plazenta auf den Boden gelegt hatte, und stellte sich mit gespreizten Beinen darüber.
    Dann hob er das Gesicht zu dem runden Himmelsausschnitt, dem scheidenden Mond und der heraufziehenden Dämmerung, richtete den Blick
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