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Das erste Jahr ihrer Ehe

Das erste Jahr ihrer Ehe

Titel: Das erste Jahr ihrer Ehe
Autoren: Anita Shreve
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überflügeln zu wollen, und dafür mochte Margaret sie noch mehr als vorher.
    Margaret dachte darüber nach, dass der Berg wahrscheinlich immer neue Erfahrungen bereithielt, selbst wenn man jedes Jahr hinaufstieg – eine Vorstellung, die sie so abschreckend fand, dass sie sie sofort vertrieb.
    Am Ende des Schotters musste Margaret eine Weile weit vornübergebeugt stehen bleiben, um mehr Luft zu bekommen. Patrick hustete. Er bat um Wasser, und die Träger bewilligten jedem einen Becher Wasser und einen Keks. Margaret brannte die Kehle, der knauserige Becher Wasser, den der Koch ihr gab, reichte kaum, um ihren Durst zu stillen.
    Der Tag war angebrochen, auch wenn die Sonne noch nicht aufgegangen war, und Ngai war ihnen immer noch wohlgesonnen. Es würde ein klarer Tag werden. Die dunkle Wolke hatte sich, soweit Margaret das ausmachen konnte, ein wenig von den Gipfeln zurückgezogen.
    »Das reinste Wunder«, bemerkte Kevin neben ihr. »Wenn wir weiter solches Glück haben, schaffen wir es auf den Gipfel.«
    »Das müssen wir«, sagte Margaret. »Wenn erst der Regen losgeht, können wir einpacken. Und auf der Höhe wird’s auch bestimmt kein Regen sein.«
    »Da wird dann wohl Schneeblindheit das Problem sein?«
    Das Gelände zwischen der Schotterhalde und dem Gletscher kam ihnen nach dem Kampf auf dem Schotter freundlich vor. Als die Sonne die Felsen über ihnen erleuchtete, fühlte sich Margaret beinahe überwältigt von der Majestät des Berges. Keine Kathedrale konnte mithalten. Wenn man den Glauben suchte, musste man hierherkommen. Allein schon die Höhe der Gipfel und der glitzernde Glanz auf ihnen weckten das Gefühl, dass sie von Geistern bewohnt waren. Wie leicht es wäre, an heidnische Götter zu glauben, wenn man ihre Macht und Stärke und Schönheit so nahe vor Augen hatte. Die schwarze Wolke, die drohend am Himmel hing, der Gletscher, der blendend hell vor ihnen lag, der Wind, der jetzt auffrischte, die Großartigkeit der Felsen – alles schien eine Botschaft zu enthalten. Die Menschen brauchten sich nur noch über diese Botschaft einig zu werden, und ein Göttersystem wäre geschaffen.
    Unmittelbar vor dem Gletscher hielt der Führer an und verkündete ihnen, dass sie in der Mitte des Gletschers einige Sekunden rasten würden. Margaret sah Njoroge an, aber der hielt den Blick von ihr abgewandt.
    Margaret tat den ersten Schritt aufs Eis. Wieder hatte der Führer ihre Reihe geordnet. Everdene hinter Njoroge, dann ein Träger, dann Kevin, dann ein Träger, dann Margaret, dann ein weiterer Träger und schließlich Patrick, dem der Koch folgte. Patrick, das Gesicht bleich im gleißenden Licht, war ein Pickel in die Hand gedrückt worden, den er bei einem Notfall ins Eis schlagen sollte. Margaret überlegte, ob es ein Fehler gewesen war, dem Führer den wahren Grund für die kurze Rastpause in der Mitte zu verschweigen. Wäre er vor ihr als einer Vorbotin des Unglücks zurückgeschreckt? Hätte er weise Worte gefunden, die ihr Ruhe gebracht hätten?
    Margaret musste an die Ziegen denken. Der Führer an der Spitze und der Koch am Ende waren Hirten, die ihre kleine Herde heil über das Eis führen wollten. Sie musste lächeln bei der Vorstellung.
    Sie wagte es nicht, nach unten zu blicken. Das hob sie sich für die kommende Pause auf. Sie hatte keinen Gedanken an Dianas Absturz zugelassen, aber sie spürte, wie die Erinnerungen sie bedrängten. Margaret machte lange, tiefe Atemzüge, um ihre Nerven zu beruhigen, aber sie merkte schnell, dass sie davon benebelt wurde. Den Blick auf die Füße des Trägers vor ihr gerichtet, fragte sie sich, ob die anderen Angst hatten. Patrick wusste, was auf dem Gletscher passieren konnte. Er wurde vielleicht von ähnlichen Bildern heimgesucht wie sie.
    Als sie der Mitte des Gletschers näher kamen, befielen Margaret Zweifel an ihrem Vorhaben. Wie war sie nur auf die Idee gekommen? Es wäre nicht nötig gewesen, anzuhalten und hinunterzublicken, eine Vorstellung, die ihr jetzt große Angst zu machen begann. Sie hätte sich genauso gut allein an den Rand des Gletschers stellen und ein stilles Gebet sprechen können. Keiner hätte etwas davon zu wissen brauchen, auch Patrick nicht. Warum dieses Bestehen auf einem rührseligen Zeremoniell? Der Führer würde glauben, sie wolle eine normale Furcht überwinden. Patrick würde glauben, sie gedenke Dianas. Würden Everdene und Kevin, unglückliche Teilnehmer an diesem absurden Ritual, es wagen, hinunterzublicken? Oder hatten sie es
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