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Das erste Jahr ihrer Ehe

Das erste Jahr ihrer Ehe

Titel: Das erste Jahr ihrer Ehe
Autoren: Anita Shreve
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wie er die Augen öffnete.
    »Njoroge hat gesagt, ich muss auf den Gipfel gehen. Um Abbitte zu leisten.«
    »Das dachte ich mir.«
    »Tut mir leid, aber ich möchte gern gehen.«
    »Ist mir egal.«
    »Aus dir spricht nur die Höhenkrankheit«, sagte Margaret.
    »Nein. Das Ganze war ohnehin eine blöde Idee.«
    Margaret verstand, was er meinte. Sie hatten sich eine Aufgabe gestellt – den Gipfel zu erreichen, um ihre Ehe zu retten –, obwohl sie beide gewusst hatten, dass sie vielleicht nicht zu bewältigen war. Konnte es sein, dass eine Ehe, die in Amerika, in einer vertrauten Welt, Bestand gehabt hätte, der Herausforderung und der moralischen Vielschichtigkeit Afrikas nicht standhalten konnte? Oder war es einfach so, dass sie und Patrick – obwohl sie beide guten Willens waren – sich nicht mehr liebten?
    Sie rieb Patricks Rücken. »Wenn ich ein Mittel dafür hätte, würde ich machen, dass es dir wieder gut geht.«
    Patrick sagte nichts, und sein Schweigen ärgerte sie.
    »Hast du mit Elena etwas gehabt?«, fragte sie.
    »Das fragst du mich jetzt?«
    »Ganz recht.«
    »Ist es denn von Bedeutung?«
    Sie überlegte. »Nein. Nein, eigentlich nicht.«
    Patrick drehte sein Gesicht weg. »Ich habe nichts mit ihr gehabt, falls es dich interessiert.«
    Margaret berührte leicht seinen Hinterkopf.
    »Okay«, flüsterte sie und stand auf.
    Der Führer zeigte ihr, wie sie die Steigeisen anlegen und wie sie sie einsetzen musste. Er gab ihr eine Skibrille.
    Margaret begann beinahe sogleich zu schwitzen, sie spürte das Prickeln unter ihren Kleidern. Der Gipfelhang war viel steiler als alles, was sie bisher bewältigt hatte. Es war, als wäre überhaupt keine Luft vorhanden. Sie wunderte sich, dass sie keine Kopfschmerzen hatte.
    Der Schneesturm erwischte sie auf halber Höhe. Der Schnee setzte sich brennend auf alle ungeschützten Teile ihres Gesichts. Sie dachte, der Führer würde umkehren, aber das tat er nicht. Und ohne ihn konnte sie nicht zurück.
    Sie war entsetzt darüber, wie nahe am Rand eines schneebedeckten Felsens sie aufstiegen, wie tief die Schlucht darunter war. Von allem, was sie je in ihrem Leben getan hatte, war dies zweifellos das Gefährlichste.
    Sie verstand nicht, dass der Führer sie nicht auf die Gefahr vorbereitet hatte und bekam Angst, sie könnte ausrutschen. War dieser Versuch, den Gipfel zu erreichen, als Strafe gedacht? Vom Führer? Von Ngai? Margaret konnte kaum die Hand vor den Augen erkennen; hätte sie nicht die Schneebrille aufgehabt, so hätte sie ihre Augen beständig zukneifen müssen.
    Immer weiter stieg der Führer, hoch und höher. Es schien ein gnadenloser Kampf. Margaret und Njoroge waren diesmal nicht durch ein Seil verbunden, und es gingen keine Träger hinter Margaret, die sie auffangen konnten, wenn sie stürzte.
    Sie bekam so wenig Luft, dass sie nicht einmal seinen Namen rufen konnte.
    Sie ging dazu über, auf allen vieren zu kriechen wie ein Tier. Der Gedanke ging ihr durch den Kopf, dass sie hier vielleicht sterben würde. War es nicht reine Hybris, bei einem Schneesturm den Gipfel bezwingen zu wollen? Aber Njoroge hatte ihr keine Wahl gelassen. Warum wartete er nicht auf sie? Sein Verhalten war unverständlich. Wenn sie wieder zu Atem kam, würde sie ihn dafür fertigmachen, dass er ihr solche Angst eingejagt hatte.
    Nein, das würde sie nicht tun. Sie waren alle auf ihn angewiesen, um den Berg wieder hinunterzukommen.
    Margaret kroch jetzt nur noch. Sie begann zu beten.
    Als Njoroge stehen blieb und ihr die Hand bot, rappelte sie sich hoch. Er hatte sich ein Tuch ums Gesicht gebunden. »Und jetzt haben Sie es geschafft«, sagte er.
    Sie schaute sich um.
    »Das ist der Gipfel?«, fragte sie.
    »Ja, das ist der Gipfel.«
    Sie stützte sich mit einer Hand auf seine Schulter, um Atem zu schöpfen. Er wartet geduldig, bis sie wieder ohne Hilfe stehen konnte.
    »Hier stellen sie manchmal Flaggen auf«, sagte er. »Haben Sie eine Flagge?«
    »Eine Flagge?« Sie schüttelte den Kopf.
    »Macht nichts. Der Wind weht sie sowieso weg.«
    Margaret drückte die Füße fest auf den Boden und suchte den Ausblick. Aber sie sah nichts. Vielleicht würde sie eines Tages Rafiq erzählen, dass sie endlich den Mount Kenya bestiegen hatte.
    »Ngai vergibt Ihnen jetzt«, sagte Njoroge.
    Obwohl ihr ganzes Gesicht brannte, blieb Margaret lange stehen. Unglaublich, dachte sie. Sie hatte einen Berg erklommen, der berühmt war für die Aussicht, die er bot, und das Einzige, was sie sehen konnte,
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