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Das Erbe

Das Erbe

Titel: Das Erbe
Autoren: Krystyna Kuhn
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starrte und wie immer auf Widerstand gepolt war.
    »Das ist nur ein Probealarm«, beruhigte er sie. Er gehörte zu den Menschen, die ständig gegen die Realität ankämpfen.
    »Was hat das zu bedeuten, Rose?« Debbies quietschende Stimme war schriller als die Sirene, die nun so laut einsetzte, dass einige sich die Ohren zuhielten.
    Rose drehte sich zur Seite. Wie immer, wenn Debbie Angst hatte, war sie so leichenblass, dass die Sommersprossen aus dem Gesicht hervorstachen. Tränen liefen ihr über das Gesicht, vermischten sich mit dem Schweiß. Die Medikamente, die Debbie immer noch nehmen musste, hatten ihren Körper aufgeschwemmt, und als sie jetzt aufstand und auf Rose zukam, bewegte sie sich so träge, als wate sie durch Wasser.
    Egal. Es spielte keine Rolle, ob es sich um einen Probealarm handelte oder um den Ernstfall. Sie mussten etwas unternehmen.
    Rose warf einen Blick auf Professor Hill, die neben dem Pult stand und hoch zum Lautsprecher starrte, als könnte sie ihn allein durch ihre Blicke zum Schweigen bringen. Es war ihr Job zu reagieren, Maßnahmen zu ergreifen. Stattdessen schien sie in eine Art Schockstarre verfallen zu sein. Es war offensichtlich – Mrs Hill hatte keinen blassen Schimmer, was sie tun sollte.
    Code 111. Code 111.
    Die Stimme im Lautsprecher wollte nicht verstummen.
    Rose versuchte, sich verzweifelt an die Vorsichtsmaßnahmen zu erinnern, die in so einem Fall zu beachten waren. Als Studienbetreuerin war sie auf diesen Notfall vorbereitet worden.
    Code 111 bedeutete nichts anderes, als dass sich jemand im Gebäude befand, bereit, auf alles zu schießen, was sich bewegte.
    Es war der Code für einen Amoklauf.
    In der nächsten Sekunde schoss sie in die Höhe und rief: »Keiner verlässt den Raum.«
    Das Gegenteil trat ein. Die Studenten sprangen von ihren Sitzen, Stühle kippten um. Prüfungsblätter flatterten zu Boden. Und schon begannen einige zu schreien. Rose hörte Janas Stimme, sie kannte die Studentin aus ihrem Kunstkurs. »Raus hier. Ich will hier raus.«
    »Ihr dürft den Raum nicht verlassen. Ihr müsst hierbleiben. Versteht ihr nicht? Das ist der Code für einen Amoklauf.«
    Doch niemand achtete auf sie. Vorne an der Tür entstand ein Gedränge, die Tür öffnete sich einen Spalt.
    Es war Tom, der dazwischenging.
    »Hierbleiben. Keiner verlässt den Raum.« Er knallte die Tür wieder zu.
    Entschlossen drängte sich Rose durch die Menge. Irgendwo musste der Schalter sein. Ihr Blick flog über die Wände. Dort links oberhalb der Tür erkannte sie den roten Knopf. Er war durch ein Glasfenster geschützt wie ein Feueralarm. Der Knopf aktivierte die zentrale Schließanlage. Es war die erste Maßnahme, die man treffen musste, wenn ein Code 111 ausgegeben wurde.
    Ohne groß nachzudenken, schlug sie mit der Faust gegen das Glas und drückte mit der flachen Hand gegen den Schalter. Sekundenlang passierte nichts, doch dann ertönte endlich ein Knacken.
    Man konnte hören, wie das Schloss einrastete. Die Tür war verschlossen. Egal, wie panisch Chris am Griff riss, mit der Faust dagegenschlug oder mit den Füßen gegen das Metall trat. Niemand konnte den Raum mehr verlassen, niemand konnte mehr hinein.
    Dann ertönte ein lautes Surren. Die Rollläden fuhren hinunter. Jetzt konnte keiner mehr in den Raum. Auch die Fenster waren nicht mehr zu öffnen.
    Es dauerte nur wenige Momente, bis der Raum im Dunkeln lag. Rose konnte die anderen lediglich als Schatten erkennen. Niemand kam auf die Idee, das Licht anzuschalten. Hatten sie verstanden, dass sie in Sicherheit waren? Wenn sie sich in ihrem Versteck ruhig verhielten, dann konnte nichts passieren.
    Nur hier und da war leises Schluchzen zu vernehmen. Die Einzige, die sich nicht beherrschen konnte, war Debbie. Sie war geradezu verrückt vor Angst und stieß in rascher Folge schrille Schreie aus. Rose fürchtete, sie würde bald keine Luft mehr bekommen. Sie musste sie zur Ruhe bringen. Der Amokläufer durfte auf keinen Fall wissen, dass sich hier noch jemand im Raum befand und wie viele sie waren. Sie musste Debbie beruhigen und zum Schweigen bringen.
    Im Halbdunkel tastete sie sich die Tische entlang und stand schließlich vor ihr. Als sie sie anfassen wollte, erhielt sie einen Schlag ins Gesicht. Aber Rose gab nicht nach. Sie zog Debbie an sich, hielt sie fest umschlungen und flüsterte: »Deb! Deb! Ganz ruhig.« Und ohne daran zu glauben, fügte sie hinzu: »Das ist bestimmt nur ein Probealarm.«
    Warum schaltete Mrs Hill sich nicht ein?
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