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Das Erbe

Das Erbe

Titel: Das Erbe
Autoren: Krystyna Kuhn
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Stift und begann, wie ein Wahnsinniger zu schreiben.

1. Im Zeichen des Pfeils
    Isabel Hill hatte ihren Hintern halb auf das Pult geschoben. Ihr T-Shirt war so kurz, dass das Piercing im Bauchnabel sichtbar wurde. Sie beobachtete die Studenten aus zusammengekniffenen Augen. Immer wenn Rose sie anschaute, sah sie eine imaginäre Peitsche in der Hand der Studienbetreuerin, die im Sommer ihren Abschluss hier am College machen würde. Hoffentlich würde sie selbst niemals so unsympathisch auf andere Studenten wirken.
    Aus den Augenwinkeln beobachtete Rose, wie Chris sein Smartphone aus der Hosentasche zog und etwas ablas. Auf Handys bei Prüfungen stand die Todesstrafe. Damit konnte Chris seine ganze Prüfung gefährden. Noch schlimmer, es drohte ihm der Ausschluss aus dem College.
    Nicht mal eigenes Papier war erlaubt. Die Taschen hatten sie vor der Tür abgegeben, ebenso wie die Jacken. Am liebsten wäre es der Collegeleitung wahrscheinlich, wenn sie nackt gekommen wären. Es hätte nur noch gefehlt, dass die Sicherheitsleute sie an der Eingangstür wie am Flughafen gescannt hätten, um noch das geringste Hilfsmittel zu entdecken.
    Was Julia betraf, trug sie die Kette mit den Eheringen ihrer Eltern um den Hals. Natürlich der reinste Aberglaube.
    Rose seufzte. Irgendwie schien der ganze Raum in eine Art Trance gefallen zu sein.
    Sie blickte von Katie zu Julia, von Julia zu Chris. Die Spannung im Raum war schwer zu ertragen. Nur das Kratzen der Füllfederhalter, die über die weißen Blätter schabten, war zu hören. Bei einer Prüfung war es den Studenten nicht erlaubt, sich einen freien Platz zu suchen. Jedem war durch ein Namensschild einer der Tische zugewiesen worden, die sich in einer Art Zickzackmuster durch den Prüfungsraum zogen.
    Roses Tisch war in der Mitte des Raums. Immer, wenn sie den Kopf hob, schaute sie aus dem Fenster direkt auf die dicke graue Nebelwand, die wie ein Vorhang den Himmel verbarg. Nur konnte man ihn nicht zur Seite ziehen. Wie Rose auch nicht den Vorhang in ihrem Kopf zur Seite ziehen konnte, der ihr Denken blockierte.
    Sie beneidete Benjamin, der aufgrund seiner langen Abwesenheit vom College von den Prüfungen befreit worden war. Vermutlich chillte der jetzt mit seinem Lover Tom aus dem Abschlussjahrgang. Debbie dagegen hatte sich sogar in die Klinik den Unterrichtsstoff schicken lassen. Rose fragte sich, warum sie sich diese Mühe gemacht hatte. Andererseits war sie noch nie schlau geworden aus dem, was Debbie trieb.
    Wie auf Stichwort hob Debbie vorn in der ersten Reihe ihren Finger.
    Professor Hill, die zusammen mit ihrer Tochter Isabel die Aufsicht führte, reagierte genervt: »Miss Wilder?«
    »Kann ich zur Toilette?«
    Es war bereits das dritte Mal, dass Debbie ihre Blase nicht im Griff hatte. Rose dagegen war seit über drei Stunden jedes menschliche Bedürfnis fremd. Sie hatte keinen Durst, dachte nicht an Essen und die Vorstellung, sie würde auf der Toilette auch nur fünf Minuten verschwenden, war absurd.
    »Schon wieder?«, fragt Mrs Hill.
    »In der Prüfungsordnung steht, dass ich das Recht habe …«
    Wieder sah Mrs Hill auf ihre Uhr und traf eine Entscheidung. »Sie haben nur noch zwanzig Minuten. So lange werden Sie es noch aushalten.«
    »Ich werde mich beim Dean beschweren.«
    »Ja, in Ordnung, tun Sie das. Aber stören Sie jetzt die anderen nicht, die zum Ende kommen müssen. Noch zwanzig Minuten.«
    Rose hatte sich für die Gedichtanalyse entschieden. Warum auch immer. Gedichte lagen ihr nicht besonders. Lyrik war etwas für Träumer. Klar dachte jeder, sie müsse besonders begabt dafür sein. Die sensible, feinfühlige Rose, die selbst aussah, als hätten Shakespeare oder Lord Byron persönlich sie in Versen verewigt.
    Aber sie hatte dieses Image satt. Es stand ihr bis zum Hals. Ihre Hand fuhr durch ihre kurzen Haare, die sich noch immer anfühlten wie weicher Flaum. Vielleicht war es zu früh gewesen, auf die Glatze zu verzichten.
    Jedenfalls lag ihr der Text auf dem Prüfungsblatt schwer im Magen. Ganz abgesehen vom Thema: die Apokalypse in der englischen Lyrik.
    Eine Gedichtinterpretation war vergleichbar damit, einen Fisch auszunehmen. In beiden Fällen gab es bestimmte Regeln, mit denen man bis zum Skelett vorstieß. Und es war ebenso kompliziert und ekelhaft.
    John Milton und seine unverständlichen Verse brachten sie zur Verzweiflung. Das war die eigentliche Apokalypse, gegen die Rose im Moment kämpfte. Sie gab ihr Bestes, um alles zum Thema Gottesgericht
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