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Das Erbe des Vaters

Das Erbe des Vaters

Titel: Das Erbe des Vaters
Autoren: Judith Lennox
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Gemeindepfarrer gibt meine Adresse allen Frauen, von denen er hört, daß sie in Schwierigkeiten sein könnten und nicht wissen, wohin. Ich nehme sie bei mir auf, wenn es irgend möglich ist, und sie bleiben, solange es ihnen gefällt. Manche bleiben nur, bis sie ihr Kind zur Welt gebracht haben, dann geben sie es zur Adoption frei und kehren zu ihren Eltern zurück. Andere entscheiden sich dafür, das Kind zu behalten. Eine unserer Mütter ist seit beinahe vier Jahren da. Wir sind gute Freundinnen. Sie hilft mir bei der Arbeit.«
    Sie öffnete ihre Handtasche und zeigte ihm eine Photographie. »Das ist Coral. Sie war unser erstes Kind. Als sie geboren wurde, lebte meine Mutter noch. Vier Frauengenerationen unter einem Dach – man sollte meinen, das wäre eine Katastrophe. War es aber nicht. Es war eine sehr glückliche Zeit.«
    Er blickte zu dem runden, lachenden Gesicht mit den dunklen Locken hinunter. »Sie ist süß«, sagte er.
    »Ja, nicht wahr?« erwiderte Evelyn stolz. »Und ich habe in den letzten Jahren alles mögliche unternommen«, fuhr sie fort. »Ich war im Ausland – ich bin geflogen. Und ich habe einen Freund, einen sehr liebenswerten Mann, der Klavierunterricht gibt, und wir gehen zusammen in Konzerte. Von ihm habe ich eine Menge über Musik gelernt – vorher hatte ich keine Ahnung.« Sie richtete ihre blaugrauen Augen auf ihn. »Ich habe gelernt, für mich selbst einzutreten. Ich helfe den Frauen im Heim. Ich sorge dafür, daß niemand ihnen ihre Kinder wegnimmt. Ich beschütze sie. Manchmal, wenn ich zurückschaue, kann ich mich kaum an die Frau erinnern, die ich einmal war.«
    Er sagte: »Sie sind hierher zurückgekommen.«
    »Für Osborne, ja. Wir sind immer noch verheiratet. Wir haben uns nie scheiden lassen. Er ist immer noch mein Mann.« Sie zog die Brauen zusammen. »Seit ich von ihm getrennt lebe, erinnere ich mich wieder, daß wir zu Beginn unserer Ehe sehr glücklich miteinander waren. Als ich mit ihm zusammenlebte, hatte ich das vergessen. Ist das nicht merkwürdig, Caleb?«
    Osborne hörte den Jungen gehen. Er vernahm gedämpftes Stimmengemurmel und dann das Geräusch von Türen, die geöffnet und geschlossen wurden. Der Schmerz kehrte schleichend zurück, aber er wollte noch nicht um die nächste Dosis Morphin bitten. Er mußte klar sein, um nachdenken zu können.
    Da ihm das Geld zur Bezahlung der Arbeiter gefehlt hatte, hatte er bald, nachdem Evelyn ihn verlassen hatte, einen Versuch unternommen, die Brücke selbst zu reparieren. Im Sommer, als der Teich ausgetrocknet war, war er ins Wasser gewatet und hatte die versunkenen Marmorblöcke mit Tauen umschlungen. Von dem alten Ackergaul hatte er sie ans Ufer ziehen lassen. Im Lauf der Jahre hatte er mehr als ein Dutzend Blöcke an Land geschleppt. Dort am Ufer waren sie liegen geblieben, und grüne Flechten hatten allmählich ihre poröse Oberfläche überzogen. Abends hatte er in der Bibliothek alte Stiche studiert und festzustellen versucht, wie die Brücke gebaut gewesen war. Er hatte eine Beschäftigung gebraucht; die Zeit war ihm lang geworden, und das Haus schien zu groß, zu leer ohne Evelyn.
    Jeden Sommer schrumpfte der Teich auf die Hälfte seiner winterlichen Ausdehnung. Der ausgetrocknete Morast, der das Wasser umgab, bekam Sprünge, und die Schleier des Laichkrauts verdichteten sich zu sumpfbraunen Totentüchern. Ein Geruch nach Verfall hing in der Luft und wehte an warmen Abenden ins Haus hinein. Das Haus selbst hatte während Evelyns Abwesenheit ein düsteres, verstaubtes Gesicht bekommen, und die zahllosen kleinen häuslichen Aufgaben, die er einst als lächerlich abgetan hatte, als nicht wert, von ihm zur Kenntnis genommen zu werden, hatten ihn überwältigt.
    Eines Tages hatte er sich gebückt und der schleimigen Umarmung des Morasts einen glänzenden Gegenstand entrissen. Es war ein Abzeichen von einer Mütze gewesen; nachdem er es gesäubert hatte, sah er, daß es einem der Soldaten des Regiments gehört haben mußte, das während des Krieges in Swanton Lacy stationiert gewesen war. Er hatte das Abzeichen eingesteckt.
    Das Eintreffen der Soldaten in Swanton Lacy so bald nach Samuel Coles Tod war ihm wie eine gottgesandte Bestrafung erschienen. Anders hatte er es nie sehen können. Jetzt, auf seinem Sterbebett, erinnerte er sich an Betty Hesketh, wie sie vor mehr als einem Vierteljahrhundert gewesen war. Die Wirkung, die sie während ihrer kurzen Affäre auf ihn, der nie ein leidenschaftlicher Mensch gewesen war,
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