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Das Erbe des Alchimisten

Das Erbe des Alchimisten

Titel: Das Erbe des Alchimisten
Autoren: Christopher Pike
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zwingst mich dazu«, entgegne ich. »Merkwürdig, daß du das nicht siehst.«
»Vermutlich ist es untrennbar mit deiner Natur verbunden. Du hast all die Jahrhunderte hindurch immer wieder gelogen. Du siehst nichts Schlimmes darin.«
»Ich hätte eine Million Male gelogen, um das Leben des Babys zu retten«, sage ich. »Aber du solltest eigentlich wissen, daß ich es hasse, diejenigen anzulügen, die ich liebe.«
Kalika streichelt weiterhin den Vogel. »Liebst du mich, Mutter?«
»Ja.«
Sie nickt. »Die Wahrheit. Und liebst du Seymour?«
»Ja.«
»Wärst du entsetzt, wenn ich ihm den Kopf abreißen würde?«
»Ich hoffe wirklich, daß sie es nicht so meint«, höre ich Seymour murmeln.
»Du darfst ihn nicht verletzen«, sage ich. »Er ist mein Freund, und er hat dir nichts getan. Laß ihn jetzt gehen, dann können wir über das Kind reden.«
Doch Kalika ist noch nicht zufrieden. Sie hält die Taube hoch. »Was ist mit diesem Vogel? Sollte ich ihn freilassen? Ihn einfach fliegen lassen, um diese generelle Amnestie zu vervollständigen? Du solltest wissen, daß es keinen Unterschied macht, ob ich es tue oder nicht. Denn wenn der Vogel stirbt, wird er wiedergeboren werden. Genauso ist es mit Menschen. Wenn du einen tötest, wird er zur gleichen Zeit in einem anderen Körper wiedergeboren. Vielleicht werden Eric und Billy beide in viel bessere Lebensumstände hineingeboren. Eric war ohnehin nicht in bester Verfassung, als er gestorben ist.« Sie verstummt und flüstert dem Vogel wieder etwas zu. »Was glaubst du, Mutter?«
Irgend etwas stört mich an ihrer Frage, an ihren Beispielen. Vielleicht versucht sie wirklich, mir etwas über sich selbst zu sagen, über ihr Wesen, darüber, wer sie tatsächlich ist. In den Vedas wird viele Male gesagt, daß ein Dämon, der unter Krishnas Händen stirbt, zur gleichen Zeit endgültig befreit wird. Aber es gibt weniger Schriften über die Fleischwerdung von Kali und ihre Heldentaten. Abgesehen davon bin ich noch nicht soweit, daß ich akzeptieren kann, daß meine Tochter wirklich Kali ist. Natürlich könnte ich sie fragen, aber der bloße Gedanke daran erfüllt mich mit Schrecken und Sorge. Vieles an ihr tut das: die Art und Weise, wie sie den Vogel nah an ihr Gesicht hält; die Blicke, mit denen sie Seymour immer wieder rasch ansieht; die Nüchternheit, mit der sie mich betrachtet und offensichtlich einschätzt; die Tatsache, daß ihr nichts entgeht. Es ist unmöglich vorauszusehen, was sie als nächstes tun wird oder was sie denkt. Ich kann mir nur Mühe geben, die richtigen Antworten auf ihre Fragen zu finden, die Antworten, von denen ich glaube, daß Krishna sie sagen würde. Nur daß ich eben keine Heilige bin und demzufolge nicht Moral predigen kann, ohne wie eine Heuchlerin zu erscheinen.
»Jedes Leben hat eine Bedeutung«, sage ich, »einen Zweck. Es macht keinen Unterschied, ob Menschen oder Vögel. Tausende von Leben leben, bevor sie zu Gott zurückkehren. Jedes einzelne Leben hat einen Wert. Jedesmal, wenn du ein Leben nimmst, bewirkst du ein schlechtes Karma.«
»Das stimmt nicht.« Sie streicht das weiche Gefieder des Vogels über ihre Wange. »Karma hat keine Bedeutung für mich. Es ist etwas für Menschen, nicht für Vampire.«
Ich begreife, daß diese Bemerkung ein Vorwurf gegen mich ist – ein Vorwurf, weil sie nun genau das ist, was ich nicht sein wollte. »In den letzten Jahrhunderten habe ich selten getötet, ohne einen wirklich guten Grund gehabt zu haben«, erkläre ich.
»Aber Eric und Billy sind aus einem bestimmten Grund gestorben«, entgegnet sie.
»Aus welchem Grund ist Eric gestorben?«
»Sein Tod sollte dich inspirieren.«
Ich blicke sie angeekelt an. »Sehe ich so aus, als ob das gelungen sei?«
»Ja«, antwortet sie. »Aber du hast meine Frage von vorhin bezüglich Seymours Kopf nicht beantwortet.« Sie macht einen Schritt auf ihn zu. Seymour zuckt zusammen, was ich ihm nicht verübeln kann. Aber es gelingt mir, seinen Blick zu erhaschen, und ich bedeute ihm, keine weiteren so abrupten Bewegungen zu machen.
Kalika wiederholt: »Wärst du entsetzt, wenn ich ihn abreißen würde?«
Ich muß eine Wahl treffen, und das schnell. Bevor sie sich Seymour noch weiter nähern kann, muß ich zuschlagen. Wenn ich vorspringe, kann ich sie ins Gesicht treten und ihr Nasenbein ins Gehirn befördern, so daß sie stirbt. Seymour würde davon vermutlich kaum etwas mitbekommen, so schnell, wie ich bin. Kalika wäre dann auf der Stelle tot. Aber ich bin noch immer etwa
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