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Das Erbe des Alchimisten

Das Erbe des Alchimisten

Titel: Das Erbe des Alchimisten
Autoren: Christopher Pike
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die Maserung in der Holztäfelung der von mir am weitesten entfernt liegenden Wand. Noch höre ich, was die Leute in den Autos reden, die draußen vorbeifahren. Ich fühle mich, als wäre ich blind und taub.
»Ich bin ein Mensch«, wiederhole ich in fassungslosem Erstaunen. Dann beginne ich gleichzeitig zu lachen, zu weinen und mich zu fragen, was ich wohl als nächstes tun soll. Als ein Vampir konnte ich bisher all das tun, was ich wollte. Jetzt überlege ich, ob ich mich jemals trauen werde, das Haus zu verlassen.
Ich hebe die Fernbedienung auf und schalte den Fernseher ein. Nachrichten – sie bringen gerade einen Bericht über die Explosion der Wasserstoffbombe letzte Nacht. Sie sagen, daß eine geheime Militärbasis dadurch vernichtet wurde. Der Wind habe nicht Richtung Las Vegas geweht, so daß hier kein radioaktiver Niederschlag heruntergegangen sei. Das berichten sie, aber sie sagen nichts über mich. Doch ich war da und habe alles selbst erlebt. Die Experten fragen sich, ob es sich um einen Unfall gehandelt habe. Sie sehen keine Verbindung zu den Polizistenmorden in Los Angeles, die ich vor wenigen Tagen begangen habe. Sie haben wirklich wenig Fantasie, das stelle ich fest. Und offenbar glauben sie nicht an Vampire.
Andererseits gibt es jetzt tatsächlich keine Vampire mehr.
»Ich habe dich geschlagen, Yaksha«, sage ich laut zu meinem toten Schöpfer – dem Vampir, der mir vor fünftausend Jahren mein menschliches Blut ausgesaugt und meine Venen mit seiner eigenen geheimnisvollen Flüssigkeit gefüllt hat. »Es hat lange gedauert, aber jetzt kann ich wieder ein normales Leben führen.«
Doch meine Erinnerungen sind alles andere als normal. Meine Seele und mein Geist sind es ebensowenig, obwohl ich plötzlich feststelle, daß ich mich an vieles, das noch vor wenigen Stunden selbstverständlich für mich war, kaum erinnern kann. Hat sich meine Identität gemeinsam mit meinem Körper verändert? Welchen Einfluß haben Erinnerungen auf die Persönlichkeit? Gewiß, ich erinnere mich noch an Krishna, aber es will mir nicht mehr gelingen, ihn so vor meinem geistigen Auge zu sehen wie bisher. Ich beginne sogar das Blau seiner Augen zu vergessen – dieses unvorstellbare Blau, das kraftvoller leuchtet als der Himmel selbst. Diese Erkenntnis macht mich traurig. In meinem langen Leben ist mir viel Schmerz zuteil geworden, aber ebenso Freude. Ich möchte, daß weder das eine noch das andere vergessen wird. Ich möchte die Erinnerung daran aufrecht erhalten.
»Joel«, flüstere ich. »Arturo.«
Nein, ich werde sie nicht vergessen. Joel war FBI-Agent, ein Freund, den ich zum Vampir machte, um sein Leben zu retten. So ist er nicht an einer Krankheit gestorben, sondern durch eine Atombombe. Und dann war da noch Arturo, ein weiterer Freund, gleichzeitig Mensch und Vampir, der im Mittelalter geboren wurde und nicht nur mein persönlicher geistlicher Vater und mein leidenschaftlicher Liebhaber war, sondern auch der größte Alchimist aller Zeiten. Es war Arturo, der mich dazu brachte, die Bombe zu zünden und damit Joel und ihn zu zerstören. Trotzdem spüre ich meine Liebe zu ihm weiterhin warm und tröstlich. Ich wünschte nur, er wäre jetzt bei mir, um zu sehen, welches Wunder seine Kenntnisse der Esoterik an mir bewirkt haben. Aber würde der von Vampirblut förmlich besessene Arturo meinen menschlichen Körper genauso lieben wie bisher? Ja, liebster Arturo, ich glaube schon. Wie du siehst, vertraue ich dir noch immer.
Dann gab es noch Ray, der für mich der wiedergeborene Rama war. Meine Erinnerung an ihn wird niemals verblassen, das schwöre ich – auch dann nicht, wenn mein menschliches Gehirn mit zunehmendem Alter vergeßlich werden sollte. Meine Liebe zu Ray hat weder etwas mit meiner menschlichen noch mit meiner anderen Natur zu tun. Sie liegt außerhalb dieser Kategorien, sie ist ewig, obwohl Ray tot ist. Getötet wurde, als er versuchte, einen Dämon zu töten, den entsetzlichen Eddie Fender. Es gibt unbedeutendere Gründe zu sterben, denke ich. Und ich erinnere mich an einige davon.
Doch im Augenblick will ich mich nicht mit der Vergangenheit beschäftigen.
Alles, was ich will, ist, wieder Mensch sein. Und leben.
Und dann klopft es plötzlich erneut an meine Tür.
Ich rühre mich nicht. Welch entsetzliche Angst ein Mensch haben kann!
»Sita!« ruft derjenige. »Ich bin’s, Seymour. Kann ich hereinkommen?«
Diese Stimme erkenne ich zweifelsfrei. Ich erhebe mich, gehe hinüber zur Eingangstür, drehe den
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