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Das entschwundene Land

Das entschwundene Land

Titel: Das entschwundene Land
Autoren: Astrid Lindgren
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zum Mittagessen statt Blutgrütze etwas anderes.
    Diese Freiheit zu haben hieß aber keineswegs, ständig frei zu haben. Daß wir zur Arbeit angehalten wurden, war die natürlichste Sache von der Welt. Schon mit sechs Jahren m ußten wir beim Rübenverziehen und Rupfen der Brennnesseln für die Hühner helfen. Mit dem Heranwachsen wurden wir auch, sofern es nötig war, bei der Erntearbeit eingespannt. Sofern es nötig war! Am Tage meiner Einsegnung ging ich am Vormittag aufs Feld Roggen stoppeln und nahm am Nachmittag das Abendmahl. Vor der Arbeit konnte man sich nicht drücken, wenn es einem gerade paßte. Kam beispielsweise eine Mitschülerin, ein untätiges Ferienstadtkind, um einem gerade während des Rübenverziehens eine mehrtägige Radtour vorzuschlagen, dann gab es nur ein Nein. Was einem aufgetragen war, das hatte man zu tun. Ich glaube, es war eine nützliche Lehre, die einem später im Leben half, auch mit eintöniger Arbeit ohne allzuviel Gestöhne und Gejammer fertig zu werden. »Reiß dich zusa m men und mach weiter«, das waren die Mahnworte unserer Mutter, wenn wir über der Spülwanne in Träumereien versanken, denn selbstverständlich hatten wir auch im Hause zu helfen.
    So etwas vergißt man sein Leben lang nicht.
    »Reiß dich zusammen und m ach weiter«, wie oft habe ich mir das nicht selber gesagt, wenn ich m ich vor einer tristen Arbeit drücken wollte, die fertig werden mußte. Und war ich versucht, mich auf etwas allzu Waghalsiges einzulassen, habe ich mich stets selber gewarnt: »Aber nicht weiter raus als bis zum Nabel!«
    Unser Leben in Näs verlief ohne schwere Schicksalsschläge, wie sie Menschen sonst treffen können. Nur einmal fehlte nicht viel, und unsere geborgene Welt wäre in Stücke gegangen. Samuel August lag auf den Tod krank an Bauchfellentzündung. Als er mit geplatzten Blinddarm ins Krankenhaus von Västervik gebracht wurde, war Hanna bei ihm, und sie wich auch während des ganzen Monats, da er u m . sein Leben kämpfte, n icht von seiner Seite. Bis zum Ende seiner Tage war Sa m uel August davon überzeugt, daß er andernfalls gestorben wäre, und später hat er uns beschrieben, daß »ihre Gebete wie 'ne Rauchfahne zum Himmel stiegen« – wenn es nun das war, was ihm geholfen hat, oder ihre bloße Anwesenheit an seinem Krankenlager. Zu Hause wurde für uns Kinder natürlich gesorgt, und doch erinnere ich mich an diesen Monat als an eine einzige große Leere. Für Hanna jedoch verstand es sich von selbst, daß ihr Platz, vor allem anderen, bei Samuel August zu sein hatte. In Freud und Leid lebten sie miteinander und füreinander.
    »Ich lebe immer mit dir, in meinen Gedanken und Taten, ja ich möchte stets ganz für Dich leben«, schrieb Samuel August an einem Apriltag 1903 bald nach dem Abend unter der Traueresche. Und dieses Versprechen hat er gehalten. Von ihrem neunten Lebensjahr an und ihr ganzes Leben hindurch blieb Hanna seine »kleine Inniggeliebte«. Sie alterte, beide alterten, doch das änderte nichts. Ich erinnere m ich ihrer, als sie beide schon die Achtzig überschritten hatten und das Leben um sie herum still geworden war, wie er dort saß und ihre Hände hielt und so zärtlich sagte: »Meine kleine Inniggeliebte, hier sitzen wir nun, du und ich, und haben's schön.«
    Nachdem sie abends zu Bett gegangen waren, unterhielten sie sich immer noch eine Weile. Dann sang Hanna ein Kirchenlied oder sagte es auf, und danach sprach Samuel August mit seiner unbeschreiblich treuherzigen Stimme das Vaterunser und den Segen. Wenn ich zu Hause auf Besuch war, stand ich manchmal still vor ihrer Tür und lauschte. Und dachte: Wie lange noch?
    An einem ganz besonderen Abend im Mai 1961, nachdem sie sich beide hingelegt und ihrer Gewohnheit gemäß die kleinen Tagesereignisse besprochen hatten, sagte Hanna einen Choral auf, den sie beide oft gemeinsam gesungen hatten und dessen letzter Vers lautet:
    Und naht die Todesstunde mir
noch diese Nacht, o Gott,
dann ist m ein Trost, daß ich bei dir im Leben wie im Tod.
    Es waren die letzten Worte, die Sa m uel August von ihr hörte. Kurz darauf erlitt sie einen Schlaganfall, und ein paar Tage später hatte Samuel August keine Hanna mehr. Er sah sie erst wieder, als sie in ihrem Sarg lag, schön auf eine neue, fremde Art in des Todes Blässe. Vorher hatte er nicht weinen können, aber als er jetzt ihre Hände in seine nahm und die Eiseskälte spürte, brach er zusammen und schluchzte verzweifelt: »Und deine Hände, die ich so oft
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