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Das Engelsgrab

Das Engelsgrab

Titel: Das Engelsgrab
Autoren: Jason Dark
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was hätte da alles passieren können!
    »Du warst auf dem Dach?« flüsterte sie. Toby nickte ihr starr zu.
    »Und? Rede doch, Junge.« Lilian reckte sich ihm entgegen und umfasste seine Handgelenke. Das dünne, bis zu den Schenkeln reichende Hemd klebte auf der Haut, denn mit den heftigen Adrenalinstößen war ihr auch Schweiß ausgebrochen.
    Toby suchte nach Worten. »Ich… ich… bin wohl gegangen. Ich war ja oben, auf dem Dach, und ich ging über den First auf den Rand zu. Zum anderen Haus hin.«
    »O Gott!« stöhnte Lilian. »Was hätte da alles passieren können, Junge.«
    »Ja, das weiß ich jetzt. Viel hätte passieren können, aber dann ist er eben gekommen. Ich weiß nicht, wie er heißt, aber er ist mein Schutzengel gewesen. Er stand im Licht und hat mich gerettet.«
    Lilians Hände lösten sich von den Gelenken ihres Sohnes. Sie kam mit seinen Aussagen nicht mehr zurecht, obwohl sie ihr so neu nicht waren, denn von dieser Gestalt, die Toby als seinen Schutzengel bezeichnete, hatte sie schon öfter gehört. Die Gestalt war ihrem Sohn nicht zum erstenmal begegnet, und er glaubte fest daran, seinen Schutzengel zu kennen. Zuerst hatte Lilian darüber gelacht und die Erzählungen ihres Sohnes angezweifelt. Aber er hatte sie wiederholt, und jetzt dachte sie anders darüber. Plötzlich war sich Lilian nicht mehr sicher, ob das nicht alles doch stimmte. Toby hatte sich auch nicht durch Gegenargumente von seiner Meinung abbringen lassen. Er hatte so stark darauf bestanden, dass es schon wieder glaubhaft wirkte. Aber nie so intensiv wie in dieser Nacht.
    Sie wusste nicht, was sie noch unternehmen sollte. Sinn, es Toby ausreden zu wollen, hatte es nicht. Er würde darauf beharren, und er war so tieftraurig, als wäre ein naher Verwandter gestorben. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm zu glauben.
    Um Toby trotzdem zu trösten, nahm sie ihn in den Arm. Dort weinte sich der Junge aus. Er konnte einfach nicht anders, er musste den Tränen freien Lauf lassen und sprach immer wieder stockend davon, wie groß seine Angst um den Engel war.
    »Es wird alles gut werden«, sagte Lilian leise. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, mein Kleiner. Ich werde jetzt viel besser auf dich Acht geben.«
    Toby reagierte nicht auf die Worte seiner Mutter. Seine Gedanken beschäftigten sich ausschließlich mit dem Engel. »Das weiß ich doch, Mummy, aber der Engel wird sterben.«
    »Engel können doch nicht sterben.«
    »Das habe ich ihm auch gesagt, aber er blieb dabei. Einer muss ihn jagen, um ihn ermorden zu wollen. Er weiß auch schon, wo er stirbt. Auf dem alten Friedhof, dem der Kinder. Dort wird er sein Grab haben. Das hat er mir gesagt.«
    »Nein, Toby, so etwas bildest du dir ein.«
    »Nicht, Mum. Ich weiß es. Er wird dort sterben. Ich will auch zu ihm gehen.«
    »Jetzt?«
    »Ja, wir können doch fahren.«
    »Nein, mein Junge, das werden wir nicht. Das ist Unsinn. Nicht mitten in der Nacht.«
    »Er hat mich doch gerettet.«
    »Das weiß ich.«
    »Deshalb dürfen wir nicht undankbar sein. Ohne ihn wäre ich doch nicht mehr.«
    Lilian rann es kalt über den Rücken, als sie die Worte vernommen hatte. Sie gab zu, dass ihr Sohn irgendwo recht hatte, vorausgesetzt, alles stimmte, was er ihr erzählt hatte.
    Toby war zwar ein träumerisch veranlagter Mensch aber er war kein Phantast. Er wusste Wirklichkeit und Scheinwirklichkeit genau zu unterscheiden, und von dieser Erscheinung hatte er nicht zum erstenmal berichtet.
    »Was sollen wir denn tun, Mummy?«
    »Können wir etwas tun?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Sieh mal, Toby, ich weiß nicht viel über Engel, aber das wenige, was man mir erzählt hat, als ich Kind war, müsste eigentlich ausreichen. Engel können doch nicht so einfach sterben. Wer sollte sie denn umbringen wollen? Wer könnte so etwas tun? Bestimmt kein Mensch, Toby, nein, daran glaube ich nicht.«
    »Es gibt da einen, der ihn jagt.«
    »Stimmt, Toby, das habe ich schon öfter von dir gehört. Aber wir können nichts tun, wenn wir nicht wissen, wer deinen Engel jagt. Hat er dir nichts gesagt? Hat er dir keinen Namen genannt?«
    »Nein, nie. Aber ich habe ihm geglaubt.«
    »Und ich glaube dir, Toby.«
    Nach diesem Satz zuckte der Junge kurz zusammen. Er löste sich aus der Umklammerung seiner Mutter, und diese heftige Bewegung zeichnete sich als Schattenspiel auf der Wand hinter dem Bett der Lilian Cramer ab.
    »Was hast du denn?«
    Toby stand vor ihr, schluckte, zog die Nase hoch und rieb seine Hände an der
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