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Das Engelsgrab

Das Engelsgrab

Titel: Das Engelsgrab
Autoren: Jason Dark
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Trotzdem musste er die Frage stellen, weil er nicht anders konnte. »Und wo soll ich suchen? Wo kann ich dich finden, mein Freund?«
    »Auf dem alten Friedhof, wo die Gräber der Gerechten stehen. Die der Unschuldigen…«
    Toby Cramer schluckte. »Die… die… der Kinder? Ich habe einmal davon gelesen und auch gehört.«
    »Ja, dort.«
    »Ich werde kommen. Ich werde dir helfen, mein Freund, und…«
    »Nein, du kannst es nicht. Noch in dieser Nacht muss ich hingehen und mich stellen. Einmal wollte ich noch zu dir kommen, aber jetzt ist es vorbei, Toby…« Die Gestalt hob innerhalb der Lichtaura ihren rechten Arm zum Abschiedsgruß. »Lebe wohl, Toby…«
    Es waren die letzten Worte, die der Elfjährige von seinem Schutzengel hörte, denn die Gestalt drehte ab und schwebte davon.
    Toby starrte ihr nach. Er sah, wie sie als weiche Lichtinsel über das Dach des Hauses hinwegglitt und nach unten tauchte, als wollte sie in der Straßenschlucht verschwinden. Dann war der Spuk vorbei.
    Toby fühlte sich so schrecklich allein. Auch Minuten später noch stand er vor seinem Bett, schaute darüber hinweg und blickte durch das Fenster in die Dunkelheit der Nacht, die seinen Retter für immer und ewig verschluckt hatte.
    Toby fror trotz der Warme. Er merkte kaum, wie die nassen Spuren der Tränen an seinen Wangen entlang nach unten rannen und dabei auch seine Mundwinkel befeuchteten. Er schaute ins Leere, ohne etwas direkt sehen zu können.
    Seine Gedanken jagten sich. Es gab den Engel nicht mehr. Nie mehr würde er Toby beschützen. Er würde auf dem alten Friedhof der Gerechten und Kinder sterben. Toby schüttelte den Kopf. »Nein!« keuchte er, »nein, nein und nochmals nein. Du sollst nicht sterben. Du darfst nicht sterben. Du bist mein Engel, und Engel sterben nicht…«
    Elf Jahre war er alt. Ein Kind noch. Und er hätte auch als Erwachsener nicht gewusst, was getan werden musste, um den Engel zu retten.
    Jedenfalls wollte er in dieser Nacht mit seinem Wissen nicht mehr allein bleiben, deshalb drehte er sich um und lief auf die Zimmertür zu.
    Diesmal stieß er mit dem Ellbogen gegen den mit Kleidung behängten Stuhl, der dadurch umkippte.
    Toby rannte auf die Tür zu. Er riss sie auf. Er konnte nicht mehr allein bleiben. Er brauchte Hilfe, jetzt und sofort. Er riss die Tür zum Schlafzimmer seiner Mutter auf.
    »Der Engel wird sterben!«
    Sirenenhaft laut klang dieser geschriene Satz in die Ohren der schlafenden Lilian Cramer hinein und riss sie aus dem Schlaf. Zugleich spürte sie die kleine Hand an der Schulter, die sie durchrüttelte, um sie endgültig in den Wachzustand zu versetzen.
    »Der Engel wird sterben, Mum!«
    Abermals hörte Lilian den Satz, aber sie war einfach noch zu benommen, um ihm genau folgen und um vor allen Dingen darauf reagieren zu können. Am Abend zuvor hatte sie wegen der Hitze in den Räumen keinen Schlaf finden können. Kurz vor Mitternacht war sie aufgestanden, hatte eine halbe Flasche Wasser geleert und damit die Schlaftablette hinuntergespült. Danach war sie in einen tiefen Schlaf gefallen, in ein Loch gesackt, und nicht einmal Träume hatten sie gestört.
    »Mum, bitte!« Der Junge rüttelte wieder an Lilians Schulter, und das ließ die Frau endlich erwachen. Sie richtete sich ruckartig auf. In der sitzenden Haltung blieb sie zunächst, stöhnte auf und schlug die Hände vors Gesicht, weil Toby die in der Nähe stehende Nachttischleuchte eingeschaltete hatte.
    Ohne die Hände zu senken, fragte Lilian: »Was ist denn los? Warum hast du mich geweckt?«
    »Weil der Engel stirbt!«
    Lilian Cramer hatte den Satz für eine Übertreibung oder Lüge gehalten, nun aber war er zum drittenmal wiederholt worden. Das machte sie stutzig.
    Die einunddreißigjährige Frau ließ die Arme sinken, schüttelte den Kopf und schaute nicht in die Lampe hinein, denn sie musste erst ihre Augen reiben. Zudem fühlte sie sich innerlich leer. »Was hast du da immer wieder gesagt, Toby?«
    Er wiederholte den Satz noch einmal. Dennoch kam seine Mutter nicht damit zurecht. »Welchen Engel meinst du denn?«
    »Meinen, Mum.«
    »Wieso deinen?«
    »Meinen Schutzengel. Er hat mich beschützt. Ich bin wieder auf dem Dach gewesen, aber er hat mich zurückgeholt.«
    Lilian Cramer erschrak zutiefst. Erst jetzt fiel ihr wieder ein, dass der volle Mond am Himmel stand, der ihren Sohn lockte. Sie hatte glatt vergessen, dass er mondsüchtig war, und sie war es noch gewesen, die das Fenster seines Zimmers geöffnet hatte. Himmel,
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