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Das Engelsgrab

Das Engelsgrab

Titel: Das Engelsgrab
Autoren: Jason Dark
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jetzt vor ihm. Aus der weichen Wolke hervor lächelte sie ihn an. Der Mund war dabei in die Breite gezogen, und in den Augen lag ein ungewöhnliches Strahlen. Es musste kein Wort gesprochen werden, denn die Gestalt handelte auf ihre Art und Weise.
    Toby Cramer spürte den leichten Druck auf seinem Körper und wurde nach hinten geschoben. Sein linkes Bein machte die Bewegung automatisch mit, so hatte er plötzlich wieder normalen Halt unter beiden Füßen.
    Er stand auf dem schmalen Sims und wusste selbst nicht, ob er die Augen geschlossen oder offen hielt. Vielleicht hatte er sie nur spaltbreit geöffnet, denn er sah die Gestalt tatsächlich dicht vor sich und spürte auch deren Aura. Sie wehte so kühl und angenehm gegen ihn. Sie umspülte seinen Oberkörper, auf dem ein leichter Schweißfilm lag. Eine gewisse Sicherheit hielt Toby umfangen, und das Gefühl der Angst hatte keine Chance, in ihm hochzusteigen.
    Die Gestalt nahm Toby bei der Hand. Wieder übte sie einen leichten Druck aus, so dass sich der Junge herumdrehte. Er ging den gleichen Weg zurück, auf dem er gekommen war, jetzt sicher, denn das Wesen ließ ihn nicht im Stich.
    Es führte ihn über den Sims hinweg auf das offene Fenster der Dachgaube zu, damit Toby wieder in sein Zimmer klettern konnte. Er glaubte auch, eine Stimme zu hören. Allerdings waren das keine normalen Worte, die ihn erreichten. Seine Beschützerin sprach ihn mit einem ungewöhnlichen Singsang an, und den hatte Toby zuvor noch nie gehört. Es musste wohl die Sprache des Himmels sein.
    Der Junge wunderte sich nicht einmal darüber, dass er denken konnte, obwohl er schlief. Beide hatten jetzt das Fenster erreicht, und auch hier blieb der Beschützer bei Toby. Er sorgte noch dafür, dass der Junge unbeschadet sein Zimmer betreten konnte, dort normal ging und auch nicht zusammenbrach.
    Vor dem Bett blieb Toby stehen. Den Kopf hielt er gesenkt wie jemand, der in tiefe Überlegungen versunken war. Wie auf ein Kommando hin hob er den Kopf plötzlich an und schaute dorthin, wo sich der Beschützer dicht hinter dem Fenster in seiner Lichtaura abzeichnete. Die Gestalt winkte ihm zu. Toby schaute genau hin. Er merkte, dass etwas ungemein Trauriges in dieser Bewegung lag, und auch ihn durchflutete ein trauriges Gefühl, so dass er den Drang verspürte, weinen zu müssen.
    Dann hörte er die Stimme seines Retters. Diesmal deutlicher, auch wenn sie noch aus dem Singsang bestand. Auch in der Stimme lag die tiefe Traurigkeit, von Tränen überschattet, von der leisen Verzweiflung getragen.
    »Es war das letzte Mal, dass wir uns gesehen haben, Toby. Ich kann dir nicht mehr helfen. Ich bin nicht mehr dein Schutzengel, denn ich werde sterben…«
    Der Junge hatte die Worte sehr gut verstanden, doch er wollte sie nicht glauben. Dass er mittlerweile erwacht war, fiel ihm kaum auf, und er schüttelte wild den Kopf. »Nein, das nicht. Nur das nicht. Du… du… kannst nicht sterben, du darfst nicht sterben, du bist doch ein Engel. Und Engel waren einmal Menschen, glaube ich. Da sind die Menschen dann gestorben. Danach wurden sie Engel.«
    Er hatte es mit seinen schlichten Worten gesagt, doch wieder schüttelte der Engel den Kopf. »Es ist anders, Toby. Bei mir und auch bei anderen ist es anders geworden. Wir sind Gejagte. Es ist jemand da, der uns töten will.«
    »Wer denn? Wer will euch töten?«
    »Ich kann es dir nicht sagen. Leider…«
    Toby streckte jetzt wieder seine Arme aus. Diesmal wollte er die Gestalt festhalten, was leider nicht möglich war, denn sie hielt sich zu weit vor ihm auf.
    »Gib auf dich acht, mein Junge. Schlaf nie mehr bei offenem Fenster. Sprich mit deiner Mutter. Sie kennt dich, und sie wird auch für dich Verständnis haben. Tu dir und mir den Gefallen und schlafe in den Vollmondnächten nicht allein. Es gibt einen mächtigen Feind, der sich mit dem Vollmond verbündet hat. Er weiß genau, dass Engel unterwegs sind, wenn er besonders stark scheint. Ich habe schon öfter seine Nähe gespürt, aber nie war er mir so nahe wie jetzt.«
    Toby hörte zu. Er hatte nur nichts begriffen, denn er war wie vor den Kopf geschlagen. Trotzdem drängten sich Fragen auf, da reagierte in seinem Innern so etwas wie ein Automatismus. »Wie kann ich dir denn helfen?« flüsterte er wieder. »Ich… muss dich finden. Wo soll ich dich suchen, mein Freund?«
    »Du wirst mich nicht mehr so finden, wie du mich jetzt kennst, mein lieber Toby.«
    »Wie denn?«
    »Tot.«
    Toby zitterte noch stärker.
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