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Das Ende der Liebe

Das Ende der Liebe

Titel: Das Ende der Liebe
Autoren: Sven Hillenkamp
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Überheblichkeiten und Neurosen.
    In Wahrheit ist so vieles möglich, dass alles möglich scheint. Die Unendlichkeit ist ein Irrtum, der auf Tatsachen beruht. Der Neurotiker hat Sinn für die Realität. Die freien Menschen mögen als unreif erscheinen, neurotisch, maßlos. Solche moralischen und psychologischen Begriffe deuten auf Altbekanntes. Doch die Ursache ist nicht länger eine fehlende Moral, eine neurotische Psyche. Die Menschen haben sich nur angepasst an eine Gesellschaft, die sich verändert hat, die jetzt Unendlichkeit erzeugt.
    Früher nannte man alle Möglichkeitsmenschen, wie die freien Menschen es sind, Träumer und Spinner. Die Wirklichkeitsmenschen dagegen, die sich in allem ans Gewesene und Gegebene hielten, galten als Realisten, als vernünftig.
    Heute ist es umgekehrt. Die Möglichkeitsmenschen sind nun die Realisten. Sie leben nicht mehr in einem Gespinst von Einbildungen, sondern versuchen nur, ihre – nicht selten wirklichen – Chancen zu verwirklichen. Wo die Grenze liegt – die Klassen- oder Geschlechtergrenze, die Talent- oder Glücksgrenze –, das können die Menschen nicht mehr mit Sicherheit sagen. Weder vorher noch nachher, wenn man gescheitert ist. Liegt es an der Welt? Oder an mir? Die Möglichkeiten sind jetzt die Wirklichkeit. Aus Menschen ohne Eigenschaften ist eine Welt ohne Eigenschaften geworden.
    Die Welt der unbegrenzten Möglichkeiten ist also keine Welt, in der jeder alles erreichen kann. Sie ist vielmehr eine, in der jeder denken muss , dass er noch mehr erreichen könnte. Die ganze Last des Schicksals liegt auf den Schultern des Einzelnen, weil er nicht mehr weiß, nicht mehr wissen kann , wo die [46] Grenze verläuft zwischen den Möglichkeiten, sein Leben (und Sterben) zu beeinflussen, und der Unmöglichkeit, dies zu tun.
    Nur im Rückblick, am Tag ihres Todes, könnten die freien Menschen mit Gewissheit sagen, wo in ihrem persönlichen Fall die Grenze verlaufen ist. Bis dahin aber stehen sie einer Gesellschaft gegenüber, die dem Einzelnen nichts mehr eindeutig unmöglich macht. Selbst wenn nicht alle Künstler werden können, gelingt es doch vielen; selbst wenn die meisten ihrer sozialen Schicht verhaftet bleiben, gelingt doch nicht wenigen der Aufstieg; selbst wenn viele Frauen durch Männer an einer Karriere gehindert werden, haben doch nicht wenige Erfolg. Also müssen sich alle Menschen , wenn sie scheitern, sagen: »Vielleicht – wahrscheinlich – liegt es an mir.«
    Die Freiheit, die ursprünglich nur darin bestand, gegenüber einer Ordnung, einem Befehl Nein sagen zu können, und sei es mit Todesfolge, ist heute also mit so vielen Mitteln und Möglichkeiten ausgestattet, dass sie, womöglich, zu allem reicht. Die Freiheit ist reich geworden. Sie verfügt über Geld und Wissen, über das Internet und die Techniken der Psychotherapie. Ein Mensch kann Regierungschef werden oder ein Flugzeug kapern. Jeder muss annehmen, er könne womöglich berühmt werden, in die Geschichte eingehen. Die Freiheit ist frei geworden. Die Gesellschaft hat sich verflüssigt. Die Menschen haben nun vermeintlich die Freiheit, alles zu tun und zu sein, alles zu erreichen: jeden Beruf und jedes Amt, jeden Erfolg und jedes Vermögen, jede Stadt und jedes Land der Welt, jeden Partner.
    Die Menschen wissen, dass sie in jeder Hinsicht den größten Effekt erzielen können – mittels des Geldes, des Erfolges, der weltweiten Medien, der Kunst, der Gewalt.
    [47] Die freien Menschen treten selbst nicht unbedingt für die Freiheit ein. Viele kämpfen für die Unfreiheit. Doch das ändert nichts an ihrer Freiheit. Auch der Terrorist ist gelöst aus allen Zwängen von Familie und Tradition, auch er lebt als Einzelner in einer freien Welt, auch – und besonders – er hat unbegrenzte Möglichkeiten.
    Selbst die Zeit verschwindet als Grenze. Den freien Menschen ist das Meiste sofort möglich: Erfolg, Gewalt und Berühmtheit; intime Bekenntnisse, Sex, Heirat, Trennung. Die Menschen kennen keine Grenzen der Gesellschaft mehr, der Länder und Kulturen, von Raum und Zeit. Die Welt ist ihnen Möglichkeit, andere Menschen sind ihnen Möglichkeiten, sie selbst sind sich Möglichkeit – durch Lernen, Heilen, Suchen, Geduld und Disziplin werden sie andere werden.
    Was jahrtausendelang in einbruchssichere Vitrinen gesperrt und für fast alle Menschen unerreichbar war – die Weltberühmtheit, die Weltvernichtung, Glamour und Inferno, die Frau und der Mann von nebenan, der eigene Körper und der eigene
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