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Das Ende der Liebe

Das Ende der Liebe

Titel: Das Ende der Liebe
Autoren: Sven Hillenkamp
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Charakter – all das liegt jetzt offen. Es kann besessen und verändert werden. Die Welt gleicht keinem Museum mehr, sondern einem Buffet. Es herrscht Selbstbedienung, und es ist das Selbst, das sich bedient.
    Die Unendlichkeit, lange eine Sache von Religion und Mathematik, ist etwas Alltägliches geworden. Die Menschen begegnen ihr auf der Straße, im Supermarkt, zu Hause auf dem Sofa. Die Unendlichkeit sitzt in jedem Kopf. Kaum einer, der nicht, wenn auch heimlich, an sie glaubt.
    Die Menschen, die an die Unendlichkeit glauben, sollen hier die freien Menschen heißen.
    Sie leiden, weil sie hinter den unendlichen Möglichkeiten zurückbleiben. Sie leiden, weil sie diesen Rückstand allein sich selbst anlasten. Sie glauben, schuld zu sein an ihrer Endlichkeit. [48] Sie leben im Zustand permanenter Sehnsucht und permanenter Scham.
    Die freien Menschen lieben ihre Arbeit nicht. Sie sind von ihrer Arbeit enttäuscht. Sie wollen eine andere Arbeit tun. Also wechseln sie – Beruf, Richtung, Abteilung, Firma. Sie haben die andere Arbeit schon immer tun wollen, nun ist es Zeit. Doch sobald sie die andere Arbeit tun, stellen sie fest: Sie lieben auch die andere Arbeit nicht.
    Die Menschen lieben auch ihre Heimat nicht. Sie haben die Heimat schon in jungen Jahren verlassen. Sie sind von ihrer Heimat enttäuscht. Doch auch die Stadt, in die sie gezogen – geflohen – sind, lieben die Menschen nicht. Die Großstadt, die Weltstadt. Sie sind auch von dieser Stadt enttäuscht. Wo die Weltstadt sich noch nicht vollendet hat, nennen die Menschen sie provinziell ; wo sie sich aber vollendet hat, nennen sie sie kommerziell . Sie sagen: »Es ist in Ordnung, einige Jahre in der Stadt zu leben, mehr nicht«.
    Die Menschen lieben auch ihre Eltern nicht. Sie sind von ihren Eltern enttäuscht. Sie sagen: »Was meine Eltern im Namen der Liebe begonnen und ein ganzes Leben lang gelebt haben, ist in Wahrheit eine furchtbare Nichtliebe gewesen, ein Egoismus.«
    Die Menschen lieben Gott nicht. Sie sind von Gott enttäuscht. Bevor sie sich von Gott ganz abgewandt haben, haben sie ihn herabgestuft zu einem »höheren Wesen«. Sie sagten: »Ich habe so ein Gefühl, dass da etwas ist: ein höheres Wesen.« Doch sie waren nicht mehr bereit, es als vollkommen und allmächtig zu verehren. Die Menschen wurden in allem, was das höhere Wesen anging, sehr kritisch. Sie hätten ihm nicht ihr Kind geopfert. Sie sagten: »Das höhere Wesen tut mir gut. Es soll mir gut tun.« Die Menschen liebten das höhere Wesen nicht, sondern standen mit ihm in einem kritischen [49] Dialog . Als sie merkten, dass das höhere Wesen ihnen nicht mehr gut tat, brachen sie den Dialog ab.
    Die Menschen lieben auch die Politiker nicht. Nichts liegt ihnen ferner als die Führer-Liebe von einst. Die Menschen sind von den Politikern enttäuscht. Sie wissen: Alle Führer und alle gewählten Repräsentanten sind Enttäuschungen gewesen.
    Die Menschen lieben auch ihren Namen nicht. Sie sind von ihrem Namen enttäuscht. Sie kürzen ihn ab, sprechen ihn anders aus, leihen ihm den Klang fremder Sprachen. Notfalls ändern sie ihren Namen.
    Die Menschen lieben auch ihren Körper nicht. Sie verändern ihren Körper. Sie lieben sich selbst nicht. Sie sind von sich selbst enttäuscht. Sie verändern sich selbst.
    Warum also sollten die Menschen, die nichts und niemanden mehr lieben, ausgerechnet einen Anderen lieben, an den sie nichts bindet als – die Liebe? Warum sollten sie die Liebe lieben? Warum sollten sie dieses Gefühl nicht überwinden, wie sie Gott und das höhere Wesen überwunden haben? Warum sollten sie den Anderen nicht verlassen wie die Heimat, ihn nicht verabscheuen wie die Arbeit, ihn nicht kritisieren wie die Eltern, ihn nicht verändern wollen wie ihren Körper, nicht abwählen wollen wie die Politiker, warum sollten die Menschen in ihrer ununterbrochenen Bewegung ausgerechnet haltmachen vor jenem Menschen, diesem Zufallsmenschen, mit dem sie das Leben teilen? Warum sollten sie dessen schrecklichen Stillstand, dessen geistige, emotionale und lebenspraktische Blockade, zu ihrer eigenen Blockade machen? Warum sollten die Menschen einem Anderen durchgehen lassen, was sie sich selbst nie durchgehen lassen würden? Warum sollten sie nicht einen anderen Anderen wählen, wie sie eine andere Stadt, eine andere Arbeit gewählt haben?
    [50] Die freien Menschen haben etwas Romanhaftes. Sie folgen der Logik ihres Lebens, wie Romanfiguren, unerbittlich, bis zur letzten
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