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Das Ende der Liebe

Das Ende der Liebe

Titel: Das Ende der Liebe
Autoren: Sven Hillenkamp
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treiben.
    Möglichkeiten können unterschiedlich mächtig sein. In der unbegrenzten Freiheit sind alle Möglichkeiten absolut, das heißt, es gibt nichts mehr, was die Menschen daran hindert, sie wahrzunehmen. Und sie sind unendlich, das heißt, von unbegrenzter Zahl. Die unendlichen Möglichkeiten sind unendlich mächtig. Sie sind Mauern und Wächter. Sie beherrschen die Menschen.
    Die Menschen kämpfen nun mit den eigenen Interessen, wie sie zuvor mit fremden gekämpft haben. Sie kämpfen mit den eigenen Abhängigkeiten. Dabei treten ihnen die eigenen Interessen und Abhängigkeiten als fremde Mächte entgegen. Die Menschen sagen: »Ich muss meine Ansprüche zurücknehmen. Ich muss meinen inneren Schweinehund überwinden. Ich muss meine Sucht bekämpfen.«
    Die Menschen behandeln ihr Eigenes, Inneres wie ein Fremdes, Äußeres – und übersehen zugleich, dass sie es tatsächlich mit einem Äußeren zu tun haben, mit den Zwängen der Freiheit.
    [43] Selbst eine äußere Macht, unter der die Menschen leiden, ist für sie immer eine, der sie sich freiwillig unterworfen haben. Da es heute für jeden Menschen viele mögliche Mächte gibt, viele mögliche Arbeitgeber, viele mögliche Vorgesetzte, müssen sie eine Macht wählen, sich also freiwillig einer unterwerfen. Oder sie sind gezwungen, sich einer bestimmten Macht zu unterwerfen, weil sie es nicht geschafft haben, zu einer besseren vorzudringen, der sie sich unterwerfen könnten.
    Aus dem Arbeitgeber, der die Menschen schlecht behandelt, wird so der miese Job, den die Menschen, weil sie scheinbar für einen besseren Job nicht geeignet sind, tun müssen, mit allen Konsequenzen. Wer gekündigt wird, hat das falsche Unternehmen, den falschen Beruf gewählt. Er ist, bereits am ersten Tag der Arbeitslosigkeit, selbst verantwortlich für dieselbe, es ist nun seine Arbeitslosigkeit geworden, denn er hat ja noch nichts Neues gefunden, mit seiner Qualifikation , seiner Persönlichkeit . So erscheint auch der äußere Zwang noch als innerer, die Schuld der Anderen als die eigene.
    Herkömmlicher Zwang ist Herrschaft, Besitz, Gewalt. Das Fremde bezwingt das Eigene: der Eigentümer den Nutzer seines Eigentums, der Chef den Angestellten, die Mutter das Kind, der Lehrer den Schüler, der Ehemann die Ehefrau.
    Wenn dagegen die Freiheit zum Zwang wird, verlagert sich der Zwang vermeintlich in die Menschen hinein. Das Eigene, so scheint es, wird bezwungen durch das Eigene. Die Menschen sprechen von Gefühlen und fehlenden Gefühlen, von Blockaden und Störungen, von Fehlentscheidungen und Entscheidungsunfähigkeit.
    Sie sagen: »Ich fühle mich so komisch.«
    »Ich fühle mich gelähmt. Ich habe keine Ideen. Keine Energie. Keine Inspiration.«
    »Ich fühle nichts. Obwohl ich etwas fühlen sollte.«
    [44] Die Welt als Widerstand, als Nichtselbstgemachtes scheint also zu verschwinden.
    Wenn die Welt dagegen die Gesamtheit der tatsächlichen und ebenso der möglichen Sachverhalte wäre, nicht nur alles, was in einem beliebigen Augenblick der Fall ist, sondern ebenso alles, was der Fall sein könnte (ich habe einen Beruf, aber ich könnte auch einen anderen haben, ich habe einen Partner, könnte aber auch viele unterschiedliche, viele hintereinander haben), dann dehnt sich die Welt, wie das Universum, aus.
    Es mag in der Welt zwar immer gleich viele tatsächliche Sachverhalte gegeben haben, zu jeder Zeit und Epoche. Doch mit der Zeit sind daneben immer mehr mögliche entstanden. Neben jedem Ding, jeder Situation sind Alternativen erschienen, neben jedem Haus, in dem der Mensch wohnt, andere, mögliche Häuser, in denen er wohnen könnte, neben jeder Stadt andere, mögliche Städte, neben jedem Partner andere mögliche Partner.
    Die Menschen beginnen, doppelt, dreifach, zigfach zu sehen. Neben allem, was sie wahrnehmen, scheinen unendlich viele Alternativen auf.
    Die Welt ist jetzt tatsächlich mehr eine mögliche denn eine tatsächliche Welt. Sie ist zu einer Möglichkeitswelt geworden. Die tatsächlichen Sachverhalte sind kaum mehr ernst zu nehmen.
    Es ist also nur die tatsächliche Welt, die im Bewusstsein der Menschen verschwindet, während (und weil) die mögliche Welt sich ausdehnt.
    In Worten der Grammatik: Der Konjunktiv, die Möglichkeitsform, überstimmt den Indikativ, die Wirklichkeitsform. Jedes Sein wird überschattet durch ein zigfaches Könnte-Sein.
    [45] Man hüte sich, hier wiederum nur die falsche Einstellung des Einzelnen zu sehen, Irrtümer und Illusionen,
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