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Das einzig glueckliche Ende einer Liebesgeschichte ist ein Unfall

Das einzig glueckliche Ende einer Liebesgeschichte ist ein Unfall

Titel: Das einzig glueckliche Ende einer Liebesgeschichte ist ein Unfall
Autoren: Joao Paulo Cuenca
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Schienen der Metro kreischen unter unseren Sitzen. Neben mir betrachten sich zwei Studentinnen im Blitzen des Zugfensters. Sie sind verliebt in das eigene Abbild, als besäße das Spiegelbild eigenes Leben und Macht über ihre Körper davor. Als sie sich sattgesehen haben, holen sie ein digitales Gerät aus der Tasche und zeigen sich Fotos auf dem kleinen Bildschirm aus Flüssigkristall. Sie kichern. Auf den Bildern feiert ein Pärchen in einem koreanischen Restaurant.
    Familienfotos sind mir ein Gräuel. Ich besitze von niemandem ein Foto. Und habe auch niemals ein Foto von jemandem aufbewahrt.
    Fotos sind gut für Reklame, für Werbung, um ein Produkt zu verkaufen. Doch nicht dazu, Erinnerungen an eine Person zu bewahren, seine Abwesenheit zu ersetzen. Ein Foto ist eine abnormale Manipulation: Zeit hat in ihm keinen Raum. Ein Fotoapparat ist wie eine feine, rechteckige, lichtschnelle Klinge. Erinnerungen dagegen müssen der Zeit unterliegen.
    Und doch ist dies, wie Herr Okuda es wohl ausdrücken würde, der Zweig, in dem ich mich betätige. Das Einfangen von Bildern. Ich bin einer jener Kerkermeister, beschäftigt in der Finanzabteilung eines Unternehmens, das Filme und Kameras herstellt. Unser Geschäftsbereich, die Produktion von Filmen, befindet sich in einem Bau in Kayabacho, einem schmucklosen Viertel von Tokio. Die Abteilung steht unter großem Druck, und viele Leute wurden über die Jahre bereits entlassen.
    Ich bin wahrscheinlich einer der Nächsten.
    Frau Hiroko Okuda sagte immer: „Spare, Shunsuke! Mein Sohn, es können auch schlechte Zeiten kommen im Leben!“ Wenn Herr Okuda das Gejammere hörte, erwiderte er: „Dieser Versager weiß doch gar nicht, was Krieg ist, hat nie hungern müssen, also ist es ganz einfach: Er spart nicht! Er gibt alles, was er verdient, für Dinge aus, die er nie wieder brauchen wird.“
    Dinge wie Misako, würde ich sagen.
    Mir ist egal, was meine Eltern und meine Kollegen tun. Ich bin mir manchmal nicht einmal sicher, ob es tatsächlich ich selbst bin, der da zwölf Stunden am Tag zubringt. Als wäre nicht ich es, sondern ein anderer, der dort arbeitet und sich Gedanken macht. In meinem Spiegelbild in den Fenstern meines Büros erkenne ich mich kaum wieder.
    Seit es Digitalkameras gibt, benutzen nur noch die Wenigsten Filme, sperren die Bilder ihrer Vergangenheit wie besessen in Binärcode auf Flash-Speicher und in Computer. Filme verkaufen wir heute nur noch an ein paar professionelle Fotografen und ambitionierte Amateure. Daher ist, abgesehen von dem Druck, der sich um unsere von Downsizing bedrohten Hälse herum aufbaut, und meiner bürokratischen Arbeit mit Planzielen und Berichten, nur noch wenig los in dem verspiegelten Gebäude. Entfremdete Arbeit, genau wie die Welt draußen auch. Und dennoch geschehen nach meiner Arbeitszeit Dinge, die mir anfangs noch wie eine Befreiung erscheinen.
    Bis ich herausfinde, dass auch sie nur eine andere Form von Entfremdung sind.

6
    Die Frau, die Misako nachfolgen sollte, ist eine Kaukasierin, fünf Jahre und dreizehn Tage jünger als ich, mit hellen Augen und – anders als bei Misako – echten blonden Haaren. Die Frau, die Misako nachfolgen sollte, ist groß, hat rosige Haut und große, runde Augen wie ein Pferd. Die Frau, die Misako nachfolgen sollte, hat pralle Brüste wie Gasballons. Die Zehen der Frau, die Misako nachfolgen sollte, sind kräftig, die Waden der Frau, die Misako nachfolgen sollte, sind fest. Alles an der Frau, die Misako nachfolgen sollte, ist groß, außer der Nase und ihren Ohren, die klein sind und nicht zu den Proportionen ihres Kopfes passen.
    Die Frau, die Misako nachfolgen sollte, ist Polin, wuchs aber in der Hafenstadt Constanţa am Rande des Schwarzen Meeres auf, das einmal „pontus euxinus“ hieß, als Ovid dort im Exil war und „Tristia“ schrieb – sie kann nur von einem der Enden der Welt kommen, wo der Horizont tiefer ist als jeder Abgrund. Sie hat Kunstgeschichte in Bukarest studiert und ist deshalb in der Lage, Geschichten wie diese hier zu begreifen, und ist die Art Frau, die im Flugzeug Bloody Mary bestellt.
    Niemals wird sie den U-Boot-Angestellten meines Vaters verraten, warum sie nach Tokio gekommen ist.
    Ich sehe sie zum ersten Mal, die Frau, die Misako nachfolgen wird. In einem Club in Kabukichō namens Abracadabar, drei Uhr nachts an jenem Donnerstag, an dem Misako und ich uns trennten, begrüße ich Angestellte eines Zulieferers, die mit Kollegen aus Osaka gekommen sind. Die Firma
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