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Das einzig glueckliche Ende einer Liebesgeschichte ist ein Unfall

Das einzig glueckliche Ende einer Liebesgeschichte ist ein Unfall

Titel: Das einzig glueckliche Ende einer Liebesgeschichte ist ein Unfall
Autoren: Joao Paulo Cuenca
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Waggon, bäumt sich eine graue Masse auf, die ihre Kräfte ballt wie ein Fisch, der die Luft anhält, um kurz darauf zu zerplatzen, sie zeigt ihre Krallen, die den Jugendlichen am Rumpf packen und seinen Körper durchlöchern. Mit einer raschen Bewegung reißen ihn die metallenen Zähne hoch bis zur Decke. Das Blut des Jungen spritzt dem alten Paar gegenüber ins Gesicht. Noch bevor sie Zeit finden zu reagieren, werden sie von der massiven Wand verschlungen, die sich auf der linken Seite aufgetürmt hat.
    Dieses Gelee aus menschlichen Überresten, Eisen- und Plastiktrümmern treibt langsam voran und reißt andere Körper und Dinge mit sich in einem bleifarbenen Wirbelsturm mit roten Fransen. Das metallische Brüllen vermischt sich mit dem Platzen der Schädel. Wie reife Trauben, Iulana. Der Boden verwindet sich, das Dach wird zu einer abschüssigen Rampe. Und nun sind wir es, die in die Luft fliegen, abgehoben vom Boden, erfasst von einer Welle, kurz bevor sie bricht. Die Armlehnen schwanken wie bei einem Erdbeben, die Flüssigkristallmonitore blinken hilflos, bevor auch sie vom Strudel der Zerstörung verschlungen werden. Die Dinge geschehen, Iulana.
    Gleich werden wir nichts mehr hören. Es wird nur noch Stille sein und Kälte, wenn das Chaos die Hälfte des Wagens eingenommen haben wird. Die Welle ist fast schon ein Teil von uns. Der „Unfall“, wie sie das nennen werden, was soeben geschieht. Ich fühle mich überlegen, das kann man so sagen, weil sie keine Ahnung haben. Sie, die gerade in hell erleuchteten Zügen nach Tokio hinein- und wieder hinausfahren und Tag für Tag eingesogen, verarbeitet und wieder ausgespuckt werden von den Kanälen dieses Tiers aus Beton und Elektrizität. Sie, die komplett ahnungslos sind über das, was hier geschieht, während sie Aufzüge, Bürgersteige, Unterführungen, Rolltreppen, Fahrbänder, Bahn­­steige und die langen unterirdischen Gänge der Bahnhöfe bevölkern und ihre permanente Bewegung wegen unserer kleinen Tragödie nicht unterbrechen. Sie, die vielleicht in einigen Stunden von unserer Geschichte erfahren werden, von dem „Unfall“, wie sie das nennen werden, was hier geschieht, und vielleicht Mitleid bekommen werden oder sich gruseln, wenn sie die Nachricht im Fernseher in der Küche sehen, morgen früh beim Kaffee – und ich muss gestehen, dass „morgen“ mir bereits jetzt wie ein sinnloses Wort, eine absurde Idee vorkommt. Sie, die für einen kurzen Moment an den Tod denken werden, um die Sache gleich darauf wieder zu vergessen, und erneut die Straßen entlang zu ihren Zügen hasten, als warteten wir nicht bereits irgendwo an einem festen, leeren Punkt in der Zukunft auf sie. Sie, die niemals begreifen werden, was hier geschieht. Denn in diesem Waggon ist etwas, das nicht wiederzugeben ist, etwas Erhabenes.
    Und dennoch werden sie versuchen, die Geschichte weiterzugeben. Ich stelle mir die Schlagzeilen in der Zeitung vor, vielleicht das Foto unserer vermatschten Reste auf den Gleisen. Es wird kaum etwas übrig sein, sie werden DNA-Tests an kleinen Fleischstückchen und an verkohlten Knochen machen müssen. Ich stelle mir vor, ich müsste in unseren Leichen herumstochern wie einer dieser Angestellten, und denke dabei, ich wäre nicht in der Lage in der Gerichtsmedizin zu arbeiten – keine Ahnung, vielleicht wegen dieses plötzlichen Gedankens, bin ich sogar dankbar für den miesen Job, den ich in den letzten Jahren hatte. Er lässt mich an all die denken, die nicht hier in diesem Waggon sitzen, so wie wir in Kürze nicht einmal mehr auf der Welt sein werden. Und ich kann überdies das Gesicht von Herrn Languste Okuda erkennen und denke, ein bisschen schuldbewusst, vielleicht hätte ich ihn eher besuchen sollen, der Urne meiner Mutter zu Ehren, die in Yoshiko steckt. Yoshiko, die hergestellt wurde in Kawaguchi in der Präfektur Saitama, nach detaillierten Anweisungen meines Vaters.
    Und ich denke an dich, Iulana Romiszowska, an deine kräftigen Finger, die festen Waden, und an den langen Weg, den alle Teile deines Körpers von Polen, deiner Kindheit in der Hafenstadt Constanţa am Rande des Schwarzen Meeres in Rumänien zurückgelegt haben, bis deine großen Augen, rund und blau, das beleuchtete Monster Tokios erblickten und nicht ohne Erstaunen auch mich – und möchte nur, dass auch du in diesem Moment, wie auch immer, an mich denkst. Ich spüre einen seltsamen Frieden, Iulana. Als sei ich eingetaucht unter die Oberfläche von etwas Neuem. Ich weiß, dass
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