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Das dunkle Erbe

Das dunkle Erbe

Titel: Das dunkle Erbe
Autoren: Thomas Kastura
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schmiegte sich an ihn wie auf einem alten Filmplakat, Wange an Wange, was er zu ignorieren schien. Unwahrscheinlich, dass er noch lebte. Das Foto war alt, Frau Rosinsky trug keine Ringe.
    An der Pinnwand waren Postkarten befestigt: Rügen, die Toskana, eine Wolkenkratzerstadt in den USA. An der Schreibtischlampe hing eine lederne Kette mit verschiedenfarbigen Holzkugeln.
    »Waren Sie in Griechenland?« Photini deutete auf den vertrauten Gegenstand. Ihr Vater spielte damit herum, seit sie denken konnte.
    »Das ist eine Gebetskette.«
    »Komboloi. Die gibt es auch in der Türkei.«
    »Hab ich in Githion gekauft. Das ist eine Stadt auf dem Peloponnes.«
    »Meine Familie stammt aus Kalamata. Ich kenn die Dinger, glauben Sie mir.«
    Frau Rosinsky hob den Kopf.
    »Heute benutzt man den Autoschlüssel, um die Finger in Bewegung zu halten. Beschäftigungstherapie für Männer.«
    »Mir hat man gesagt –«
    »Die religiöse Bedeutung spielt kaum mehr eine Rolle.« Photini zuckte mit der Schulter. »Aber Ihre Komboloi haben Stil.«
    »Die meisten sind aus Plastik.« Frau Rosinsky rümpfte die Nase. »Was meinen Sie, wie lange ich nach einer hübschen Kette gesucht habe?«
    »Githion. War das eine Rundreise?«
    »Mit dem Schiff, von Kreta aus. Seit wann leben Sie in Deutschland?«
    »Mein Vater ist seit vierzig Jahren hier. Darf ich?« Photini beugte sich vor und nahm die Kette von dem Lampengestänge. Sie schlenkerte damit herum, vor und zurück, in kreisenden Bewegungen. »Liegt gut in der Hand.«
    Frau Rosinsky nahm ihr die Komboloi ab und hängte sie wieder an ihren Platz. »Nur ein Souvenir.«
    »Bestimmt verbinden Sie schöne Erinnerungen damit.«
    »Es war eine … überraschende Reise.«
    Photini betrachtete die Postkarten. Urlaub war ein Fremdwort für sie. In jedem Herbst fuhr sie zum Geburtshaus ihres Vaters in der alten Heimat und half ihren Eltern, dort alles in Ordnung zu halten. Einmal war sie mit einer Kollegin auf Mallorca gewesen, mit dem Ergebnis, dass Photini in den meisten Nächten am Meer spazieren ging, während die Kollegin Sex im Akkord hatte – mit wechselnden Partnern. Als Photini beim Duschen ein gebrauchtes Kondom fand, legte sie es ihrer Kollegin unters Kopfkissen und nahm den ersten Flieger zurück nach Köln.
    »Die guten Zeiten sind kurz«, sagte Photini und dachte an ihre wenigen Liebschaften. Sie konnte sie an einer Hand abzählen, es war nichts Weltbewegendes dabei.
    Frau Rosinsky nahm ein Pfefferminz und starrte für ein paar Augenblicke durch die junge Polizistin hindurch. Was sie in Githion erlebt hatte, würde ihr noch lang im Gedächtnis bleiben. Überraschend – und kurz, wie die Polizistin gesagt hatte. Dann öffnete sie eine Schublade und holte einen einzelnen Schlüssel hervor. »Damit kommen Sie überall rein. Schließen Sie wieder hinter sich ab.«
    »Wollen Sie nicht mitkommen?«, fragte Photini verdutzt.
    »Ich habe hier zu tun.« Die Andeutung eines Lächelns. »Sie müssen Ihre Arbeit schon allein machen.«
    »Danke.«
    Loyal und diskret bis zum Umfallen, aber mit einem weichen Kern. Photini revidierte ihre Meinung über den Zerberus. Wachhunde waren auch nur Menschen.
    Zuerst sah sie sich in der Praxis der Frauenärztin um. Die Geräte waren veraltet, der Untersuchungsstuhl erinnerte mit seinem verchromten Gestänge und den Lederauflagen an ein Folterinstrument. Auch der Wehenschreiber hatte schon bessere Tage gesehen. Das Ultraschallgerät stammte immerhin aus einer Zeit, in der Photini bereits geboren war. An den Wänden Raufasertapete. Eva von Barths Patientinnen schienen keinen Wert auf eine moderne Ausstattung zu legen.
    Aber alles war klinisch sauber, nichts lag ungeordnet herum. Photini streifte Handschuhe über und filzte den gesamten Raum. Das Einzige, was hier nicht hingehörte, war ihr schon beim Eintreten aufgefallen: eine Klarsichtmappe auf Eva von Barths Eichenholzschreibtisch. Sie enthielt Baupläne der Villa. Photini unterschied die verschiedenen Etagen. Anscheinend überlegte sich die Ärztin, das Kellergeschoss umzugestalten. Mehrere Entwürfe zeigten unterschiedliche Lösungen: Auf einem waren verschiedene Räume skizziert, beschriftet mit »Praxis G. Simon«. Ein anderer sah ein »Schwimmbad« fast über der gesamten Grundfläche vor, mit Pfeilern zum Abstützen. Beide Pläne waren mit Kugelschreiber durchgestrichen. Das letzte Blatt zeigte den derzeitigen Zustand des Kellers. Viele verschachtelte Räume. Wörter wie »Isolierung« und »Dämmung«
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