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Das dunkle Erbe

Das dunkle Erbe

Titel: Das dunkle Erbe
Autoren: Thomas Kastura
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standen handschriftlich daneben. Dieses Blatt lag obenauf.
    Photini hatte an der Straße eine Mulde für Bauschutt gesehen. Offenbar stand der Umbau unmittelbar bevor.
    Vielleicht gaben die privaten Räume der Ärztin mehr Aufschluss. Photini passierte die Empfangstheke, Frau Rosinsky war in Patientenakten vertieft und nickte ihr nur kurz zu. Auf diese Weise ignorierte sie, dass jemand in ihr Reich eindrang.
    Im ersten Stock befand sich die Wohnung der vermissten Ärztin. Ein Geländer, glattpoliert von zahllosen Händen. Eine Tür mit gusseisernem Gittereinsatz. Der Geruch von Bohnerwachs.
    Eva von Barth war eine seit langer Zeit alleinstehende Frau. Man weiß gleich, wenn nur eine einzige Person ein Haus bewohnt. Immerzu bleibt etwas liegen, Dinge, die man wegräumen würde, wenn man mit jemandem zusammenlebt. Nichts richtig Intimes, nur Kleinigkeiten: Briefe von Patientinnen, medizinische Fachzeitschriften älteren Datums, die Weihnachtskarten des vergangenen Jahres.
    Photini ging es nicht anders. Auch sie ließ niemanden in ihr Leben und sehnte auch niemanden herbei. Ihre eigene Wohnung wirkte wie ein unbeschriebenes Blatt Papier, kahl und anonym. Da sie wenig besaß, konnte auch wenig herumliegen.
    Immerhin hatte die Ärztin Geschmack. Und Geld, zumindest früher einmal. Die Möbelstücke stellten einen beneidenswerten Stilquerschnitt dar, mit Schwerpunkt auf dem Biedermeier: schlichte Ensembles, klare Formen, alles über Jahrzehnte hinweg benutzt. Es schien eine Zeit gegeben zu haben, in der Eva von Barth antike Möbel gesammelt hatte – oder ihre Vorfahren. Seither hatte sich so gut wie nichts verändert. Hin und wieder ein Zugeständnis an die Moderne: eine Sitzgruppe aus Stahlrohr und Freischwinger an einem langen Esstisch, der aus einem alten Refektorium stammen konnte. Wie viele Menschen mochten je an der abgewetzten Tischplatte gesessen haben? Die Ärztin empfing Frau Rosinsky zufolge wenig Gäste, möglicherweise benutzte sie den Tisch überhaupt nicht.
    Die CD-Sammlung bestand vorwiegend aus Klassik-Einspielungen. Auffällig viele Barockkomponisten, so weit Photini das zuordnen konnte: Telemann, Bach, Vivaldi. Auch hier herrschte das Alte vor. Es gab sogar noch zahlreiche Schallplatten, Aufnahmen lang zurückliegender Konzerte.
    Das Schlafzimmer glich einer Mönchszelle. Schmales Bett, Schrank, ein Nachttisch. Nirgendwo stieß Photini auf Bilder, die Menschen zeigten. In so einer Wohnung erwartete sie eigentlich einen kleinen Familienschrein mit Eltern, Cousins und Cousinen, Neffen, Nichten. Und wenn es schon keine Zeugnisse der Gegenwart gab, so zumindest der Vergangenheit, von früheren Generationen, Tradition. Aber da war nichts.
    Der Wandschmuck bestand vorwiegend aus Schwarzweißfotografien von Architektur. Konstruktionen aus Glas und Stahl. Bürokomplexe, Wohnhäuser, eine Kirche. Alle Gebäude waren dem Funktionalismus zuzurechnen, sie stammten aus den fünfziger Jahren, viele befanden sich in Köln. Eine Ästhetik nicht ohne Reiz, zu ihrer Zeit.
    Die Einrichtung war elegant, aber es war eine Schönheit ohne Widerhall. Mit Frau Rosinsky hatte Eva von Barth wohl die perfekte Angestellte gefunden. Die Sekretärin schien kein Leben zu führen, das die Ärztin an verpasste Gelegenheiten erinnerte.
    Auf einem Beistelltisch fand Photini ein Buch über jüdische Kultur. Sie blätterte darin, erstaunt über die fremdartigen Gegenstände, die nicht einfach nur Artefakte waren, sondern Kultobjekte. »Chanukka-Menora«, »Seder-Schüssel«, »Besamimbüchsen« stand neben den Abbildungen. Was verband die Ärztin damit? Eine geschichtliche Verpflichtung? Das würde zu ihrem Alter passen.
    Es gab nichts, was auf einen überstürzten Aufbruch hindeutete. Auf einem kleinen Schreibtisch im Wohnzimmer lagen Rechnungen mit Überweisungsscheinen, bereit zum Ausfüllen. Photini sah in jede Schublade. Wenn Eva von Barth Geheimnisse gehabt hatte, dann befanden sie sich hier und nicht unten in der Praxis, wo viele Leute ein und aus gingen. Aber außer Büromaterialien war nichts zu finden.
    Photini ging ins Dachgeschoss hoch. Die Türschwelle war von einer dicken Staubschicht bedeckt, offenbar war seit längerem niemand mehr hier gewesen. Truhen, Regale und weitere Möbelstücke ruhten unter Kunststoffplanen, man hatte nicht den Eindruck, als sei vor kurzem etwas hinzugefügt oder weggenommen worden.
    Schließlich stieg Photini die Treppen bis zum Keller hinunter. Gefliester Boden, eine schwere Stahltür. Hier bot
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