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Das dunkle Erbe

Das dunkle Erbe

Titel: Das dunkle Erbe
Autoren: Thomas Kastura
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unwillkürlich, ohne nachdenken zu müssen?
    Raupach kannte genug solcher Fälle, in denen Verdächtige die Ermittler gar nicht bewusst täuschten und gerade deshalb glaubhaft wirkten. Auf der langen Skala zwischen Lüge und Wahrheit gab es viele Unterteilungen.
     
    HEIDE STAND in einem zugigen Flur im Erdgeschoss des Hauses, in dem Gesa Simon zur Miete wohnte. Sie hatte schon viele Klatschbasen befragt, Gerüchteverbreiter, Treppenhaus-Herumschleicher, Briefkasten-Gucker, notorische Schwätzer, die sich das Maul zerrissen über alles, worauf sie keinen Einfluss hatten.
    Auch Karl Sevenich mochte es, sich in die Angelegenheiten anderer Leute einzumischen. Er wohnte im Parterre und gehörte zur Kategorie »Blockwart mit Herz«: keine kalte Denunziantenseele, sondern jemand, der sich mit Rat und Tat um seine Schäflein kümmerte. Was die Schäflein dummerweise nicht zu schätzen wussten.
    Doch Sevenich besaß die Schwäche, seine Schlüsse nur auf der Basis eigener Erfahrungen zu ziehen. Ein Zeuge, der viel redete und dabei kaum etwas Verwertbares sagte.
    »Und Sie haben gesehen, wie Herr Schwan am Freitag gegen 17 Uhr die Wohnung von Frau Simon betreten hat?«
    »Ohne jeden Zweifel, Frau Kommissarin. Schon das Motorengeräusch war unverwechselbar. Er fährt einen silbernen Audi A8, den Klang kenne ich ganz genau.«
    »Haben Sie selber einen?«
    »Wo denken Sie hin? Aber wenn man jahrelang in einem Parkhaus gearbeitet hat wie ich, lernt man, die Modelle nach Gehör zu unterscheiden.«
    Heide begann, die Treppe hochzugehen. Sevenich folgte ihr.
    »Seit wann sind Sie im Ruhestand?«, fragte sie.
    »Seit fünf Jahren und zwei Monaten. Wenn’s nach mir gegangen wäre, hätte ich noch weitergemacht, zum Arbeiten bin ich mir nicht zu schade. Ich saß an der Kasse, da braucht man Sitzfleisch, Ausdauer. Nichts für junge Leute.«
    »Sie haben also ein Fahrzeug gehört, das so klang wie der Wagen von Doktor Schwan.«
    »Er fuhr mit Schrittgeschwindigkeit vorbei und parkte weiter vorn, fast schon am Kirchplatz.« Der Mann nestelte an den Knöpfen seiner Strickjacke herum. »Es ist ziemlich ruhig in der Menzelstraße.«
    »Haben Sie Herrn Schwan eindeutig identifiziert?«
    »Er kam immer um diese Zeit, Freitag, am späten Nachmittag«, wunderte sich Sevenich.
    Heide warf Höttges einen entnervten Blick zu. Der Kommissaranwärter war damit beschäftigt, der Spurensicherung ein Schnippchen zu schlagen. Mit einem Pinsel fuhrwerkte er auf dem Fußabstreifer herum in der Hoffnung, dass die Kollegen ein paar Staubkörner übriggelassen hatten.
    Sevenich fiel noch etwas ein. »Ich glaube, er hatte seinen Mantel an. So einen leichten, hellen. Kittfarben.«
    »Den Mantel haben Sie gesehen?«, fragte Heide. »Ganz sicher?«
    »Aus den Augenwinkeln. Ich las Zeitung und saß an unserer Sitzecke, die geht zur Straße raus.«
    Die Tür von Gesa Simon war mit Absperrband gesichert. Zweiter Stock. Ein Haus wie viele in Köln, im Sechzigviertel. Sechs Mietparteien. Zwei Familien mit Kindern. Ein alleinstehendes älteres Ehepaar. Der Rest Singles. Keiner hatte zu der Ermordeten näheren Kontakt gehabt. Und keiner hatte etwas bemerkt außer Sevenich. Ein seltsamer Geruch hatte ihn stutzig gemacht.
    Die Frau war direkt neben der Garderobe getötet worden. Im Eingangsbereich, wie Sophie Schwan. Heide nahm an, dass es ganz schnell gegangen war, ohne verdächtige Geräusche. Der Cellist, der mit Gesa Simon auf derselben Etage wohnte, hatte eine Orchesterprobe in der Innenstadt gehabt. Die meisten Bewohner kamen erst gegen 18 Uhr nach Hause. Eine der beiden Familien war gerade im Urlaub. Außerdem wunderte sich niemand über fremde Leute im Haus. Gesa Simon nutzte zwei Zimmer ihrer Wohnung für ihren Beruf als Heilpraktikerin. Sie empfing Patienten nur nach Vereinbarung.
    Ein Flickenteppich hatte sich so stark mit Blut vollgesogen, dass keine seiner ursprünglichen Farben mehr zu erkennen gewesen war. Erkaltendes Blut roch metallisch, wie nach Eisen, und ein wenig modrig. Das war Sevenich aufgefallen, als er am Samstagnachmittag eine große Versandtasche zu Gesa Simon hochgebracht hatte – er mochte es nicht, wenn der Flur mit derlei Krempel vollstand. Die Versandtasche hatte Schaubilder des menschlichen Körpers enthalten, mit der Lage der Meridiane und anderer Punkte und Bahnen, die für eine Therapie nach dem Vorbild der chinesischen Medizin wichtig waren.
    Die Spurensicherung hatte im Treppenhaus keine Blutflecken gefunden. Das war ungewöhnlich,
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