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Das dritte Leben

Das dritte Leben

Titel: Das dritte Leben
Autoren: Alexandra Cordes
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sah ihn an, blickte ihm in die Augen, diese rauchgrauen unergründlichen Augen.
    Wer war dieser Mann? Was wollte er?
    Sie spürte, wie ein Gefühl sich in ihr Herz drängte, das sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gekannt hatte: Angst.
    Sie sah Wiegand an. »Matthias? Was ist los?«
    Wiegand stand auf, ging zum Fenster. Mit dem Rücken zu ihnen begann er die Geschichte seines ›Vorlebens‹, wie er es nannte.
    14
    »Es war an einem Junimorgen des Jahres 1943. In mein Ordinationszimmer in Elbing in Ostpreußen kam eine junge Frau. Sie hieß Alexa Berglund«, begann Wiegand seine Beichte.
    Irene hob die Schultern. Mein Gott, eine Kriegsgeschichte. Irgendeine alte Geschichte von vor mehr als zwanzig Jahren. Wen ging das schon was an?
    Fast tonlos fuhr Wiegand in seiner Erzählung fort. Und da richtete Irene sich auf, jäh aus ihrer Sicherheit gerissen.
    Wie ein Trunkener leierte Wiegand die grausige Geschichte von Verführung, von Lüge und Betrug, von Leid und feigem Verlassen der Geliebten herunter – wie betäubt von der Ungeheuerlichkeit seines damaligen Handelns.
    Irene schloß die Augen. Jedes Wort, das Matthias sprach, brannte sich in ihr Gedächtnis. Und sie wußte, sie würde keines dieser Worte je vergessen können.
    Niemand sprach, als Wiegand seine Selbstanklage beendet hatte. Minutenlang herrschte Stille im Arbeitszimmer des Mannes, der soeben, so glaubte er, sein ganzes Leben, seine Ehe, seine Zukunft mit diesem Bekenntnis zerstört hatte.
    Irene erhob sich langsam. Mein Mann, dachte sie. Bis daß der Tod uns scheidet.
    »So«, sagte sie zu Berglund gewandt. »Sind Sie nun zufrieden?«
    Berglund stand ebenfalls auf. Sein Gesicht war ausdruckslos.
    »Ich habe es gehört. Ich habe jedes Wort gehört«, sagte Irene. »Ich weiß nun Bescheid.«
    Berglund neigte den Kopf.
    »Du wirst nicht verlangen, daß ich dich in Gegenwart dieses Mannes um Verzeihung bitte«, sagte Wiegand mit gepreßter Stimme.
    Irene lächelte. Es war ein Lächeln, wie es eine Mutter für den längst gesühnten Fehler ihres Sohnes hat.
    »Nein. Das wirst du auch nicht tun.« Und zu Berglund gewandt: »Es gibt nichts zu verzeihen. Nicht von mir. Sie sind es, der über das Schicksal meines Mannes entscheidet. Sie haben unser aller Leben in der Hand. Ich habe meinem Mann nichts zu verzeihen. Was geschehen ist, ist geschehen. Es war Krieg. Wir alle haben gesündigt, Sie etwa nicht, Herr Berglund?«
    Der Strafverteidiger sah diese Frau, diese strahlende Frau, die plötzlich um ihren Mann kämpfte, mit einem Blick an, in dem sich Bewunderung und Neid mischten.
    »Sie haben es in der Hand zu verzeihen«, sagte Irene noch einmal.
    Berglund sah auf die Papiere, die Dokumente, die er in der Hand gehalten hatte, als sehe er sie zum ersten Mal in seinem Leben. Er riß sie entzwei, ein Papier nach dem anderen. Dann warf er Fetzen in den Papierkorb neben Wiegands Schreibtisch. Er nahm seinen Hut, verbeugte sich wortlos vor Irene und ging zur Tür.
    »Matthias«, flüsterte Irene.
    Wiegand ging mit schnellen Schritten auf Berglund zu. Er blieb vor dem Mann stehen, dem er vor vierundzwanzig Jahren die Frau genommen hatte.
    »Ich bereue«, sagte er.
    Nur diese beiden Worte.
    Langsam hellte sich Berglunds Gesicht auf. Er nickte, mit einer kaum merklichen Bewegung seines Kopfes, dann öffnete er die Tür und trat in den Flur hinaus. Er sah Irene noch mit einem langen, forschenden Blick an. Sah noch einmal Wiegand an. Stumm, ohne ein Wort. Aber in seinen Augen war alles, was er sagen wollte: Ohne diese Frau, Matthias Wiegand, würde ich dich zerbrechen wie ein dürres Stück Holz.
    Dann schloß er die Tür. Seine Schritte entfernten sich schnell. Die Außentür fiel ins Schloß.
    Wiegand drehte sich langsam um. Sah Irene an. Vor dem Fremden hatte sie ihn verteidigt. Aber nun?
    »Ich bin bereit, die Konsequenzen zu ziehen«, sagte er. »Wenn du dich scheiden lassen willst –«
    Irene ging zum Schreibtisch, auf dem Wiegands goldenes Zigarettenetui lag, schnippte es auf, nahm eine Zigarette heraus.
    Er wollte ihr Feuer geben, aber ehe er noch ein Zündholz anreißen konnte, hatte sie sich schon selbst mit ihrem Feuerzeug bedient.
    »Ich bin bereit, hier alles aufzugeben«, sagte Wiegand. »Ich werde – als Landarzt irgendwo eine Praxis aufmachen.«
    Irene blies langsam den Rauch der Zigarette aus. Sie sah Wiegand aufmerksam an.
    »Ich werde, wenn du es willst, auch unsere Jungs ganz dir überlassen …« Seine Stimme war brüchig, wie die eines alten
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