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Das dritte Leben

Das dritte Leben

Titel: Das dritte Leben
Autoren: Alexandra Cordes
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Mannes.
    Irene blickte zum Fenster. Die Dunkelheit stand undurchdringlich vor dem Haus.
    Niemand wird je die Gedanken des anderen wirklich kennen, dachte sie. Niemand wird jemals in die Seele des anderen sehen können.
    »Ich bin zu allem bereit«, sagte Wiegand.
    »So?« Sie hob die Augenbrauen.
    »Ja, zu allem.«
    Sie lächelte. Es war dieses Lächeln, das ihn so oft in Zorn gebracht hatte. Aber jetzt erfüllte es ihn nur mit Trauer über die verlorenen Chancen, über sein verlorenes Leben.
    Irene trat ans Fenster. Mit der linken Hand hielt sie den weißen Fuchskragen zu, als friere sie.
    »Schau nach draußen.« Er konnte nichts erkennen. »Ja?« fragte er, Zweifel in der Stimme.
    »Kannst du etwas sehen?«
    »Nein. Es ist zu dunkel.«
    »Eben.«
    Er blickte Irene an. »Und?« fragte er.
    Sie drehte sich um, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Fensterbank. »Ja, Dunkelheit. Nichts. Das reine Nichts.«
    Jetzt kommt es, dachte er. Jetzt wird sie es mir sagen.
    »Du gestattest?« Mit zitternden Händen zündete auch er sich eine Zigarette an, inhalierte tief.
    »Das Nichts wartet auf uns, Matthias. Es wartet schon lange auf uns. Und wenn wir einmal dort sind, dann ist all das vergessen, was in unserem Leben geschah. Dann sind unsere Taten nur noch Staub im Wind der Vergangenheit, schnell verweht.«
    Sie will mich quälen, dachte er.
    »Solange wir leben, ist Licht um uns. Solange wir leben, sollen wir das Beste, das Schönste aus unserem Leben machen.«
    »Ja«, murmelte er ohne Überzeugung.
    »Scheidung!« Sie lachte. »Trennung!« Sie lachte lauter. »Glaubst du im Ernst, ich wollte allein in einem kalten Bett liegen, allein die Sonne aufgehen, sie untergehen sehen, allein diesen langen Weg gehen, der ins Dunkel führt?«
    »Irene!«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich werde bei dir bleiben. Ich denke nicht daran, das, was du ›Konsequenzen‹nennst, zu ziehen oder zu akzeptieren. Ich will leben. Mit dir!«
    Er warf die Zigarette zu Boden, ergriff ihre Ellbogen.
    »Du weißt nicht, was du sagst.«
    »Natürlich weiß ich das.«
    Sie hob ihre freie Hand, streichelte sein Gesicht.
    »Matthias.« Sie schüttelte den Kopf. »Warum hast du es mir nicht schon längst erzählt? Glaubst du im Ernst, daß ich dir etwas, das vor so langer Zeit geschehen ist, Jahre vor unserer Ehe, zum Vorwurf machen könnte? Was du getan hast, ist schlimm. Aber du warst jung, und es war Krieg. Du bist Professor Matthias Wiegand. Und mehr noch: Du bist mein Mann!«
    Plötzlich waren Tränen in seinen Augen.
    »Matthias! – Nicht!«
    Er verbarg sein Gesicht an ihrer Schulter.
    »Ich habe es nicht verdient.«
    Lächelnd blickte sie über seine Schulter hinweg in den Raum, in sein Arbeitszimmer.
    »Sprich nicht«, sagte sie leise. »Komm, wir fahren nach Hause.«
    Sie chauffierte den Wagen. Unterwegs bog sie nach Süden ab. Er fragte nichts, sagte nichts.
    Sie hielt vor dem Wochenendhaus, das zwischen den Tannen lag.
    »Weißt du noch?« fragte sie, während sie die Lichter des Wagens ausschaltete.
    Er nickte stumm.
    »Hier haben wir die erste Nacht miteinander verbracht.«
    Er griff nach ihrer Hand, küßte sie.
    »Komm, Matthias«, sagte sie.
    Sie hakte sich bei ihm ein, und zusammen gingen sie auf das Blockhaus zu.
    Das Dröhnen der Motoren rüttelte Richard Gertner aus einem unruhigen Halbschlaf. Er fuhr hoch, wußte im ersten Moment nicht, wo er sich befand.
    Vor ihm war der Rücken eines Flugsitzes. Links von ihm ein alter Mann, der mit leeren Augen vor sich hin starrte. Rechts von ihm das runde Bullauge. Graue Wolken rasten vorbei.
    Die Leuchtzeichen flackerten auf: Rauchen einstellen, Bitte anschnallen. Die planmäßige Maschine Warschau-Danzig setzte zur Landung an.
    Richard lehnte sich zurück. Er versuchte, durch Dunst und Wolken etwas zu erkennen. Der Horizont kam plötzlich in Sicht – schwarzes tintiges Wasser. Die Ostsee.
    Dann kippte der Horizont weg. Die Maschine ging in die Landekurve.
    Die alte Iljuschin dröhnte und rüttelte, als wollte sie jeden Augenblick auseinanderfallen.
    Die Bucht von Danzig kam wieder in Sicht.
    Richard spürte, wie eine heiße Welle langsam in seiner Brust hochstieg.
    Hier war es gewesen. Hier hatte Hilde Sabine verloren.
    Die Tür zur Flugkabine öffnete sich, ein Steward trat heraus, ging schnell nach hinten.
    Die Motoren spuckten und husteten. Blinkfeuer von unten.
    Sabine wohnte dort, in irgendeinem der Häuser, die jetzt unterhalb der Wolkendecke deutlich zu erkennen waren, schwarze,
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