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Das dritte Leben

Das dritte Leben

Titel: Das dritte Leben
Autoren: Alexandra Cordes
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dem Sportplatz ist, und schmökert in meinen Büchern herum.«
    Der Professor trank von seinem Tee.
    »Ja. Dreiundzwanzig Jahre.« Seine Augen gingen zum Fenster. Zwischen den Zeilen zweier Hausblöcke konnte man die Ostsee sehen, grau, bleiern, schimmernd im letzten Licht des Tages.
    »Dort draußen trieb sie, ein hilfloses Bündel. Wir waren mit den Ruderbooten hinausgefahren. Sahen, wie die Menschen ertranken, wollten helfen. Die Deutschen hatten uns Schlimmes angetan, aber die Flüchtlinge … Es waren Frauen und Kinder … Ich habe sie beschworen zu bleiben, nicht mit den Schiffen zu fahren … Viele hätten gerettet werden können, so dachte ich. Allerdings war ich nicht auf das vorbereitet, was dann passierte, als die Russen kamen.«
    15
    Professor Wolzcek sprach nicht lange über die Russen; er sagte nur: »Jeder weiß ja, was dann geschah. Jedenfalls sah ich das Kind fallen, von der Planke, die zu dem großen Schiff führte. Eine Frau schrie, es mußte die Mutter sein … Ich ruderte heran, bekam das kleine Menschenbündel zu fassen … Nahm es ins Boot. Die Russen schossen, und ein Splitter traf mich am Oberarm. Aber ich kam noch zurück an Land. Als ich auf den Strand trat, zerschossen sie mir das Boot. Ich hielt das Kind in den Armen und bin gelaufen, gelaufen … Immer im Feuer der Russen und dem Feuer der deutschen Schiffe, die zurückschossen. Und dann war ich in unserem Keller, in dem wir seit Wochen lebten. Das Kind – wir haben es mit heißem Wasser gebadet – wir hatten keine Milch – ich habe welche gestohlen, von einem Wehrmacht-Lkw im Hof der nahen Kaserne. Sechs Büchsen. Damit sind wir drei Tage ausgekommen, dann hatten wir nichts mehr. Ich bin hinausgegangen und habe wieder gestohlen …«
    Das Panorama des Kampfes um Danzig, des Kampfes eines Mannes um seine Frau und das kleine Menschenkind, das er gerettet hatte, entrollte sich vor Richards Augen.
    Täglich hatte Wolzcek sein Leben riskiert. Täglich hatte er mit dem Tod gespielt. Aber er hatte gewonnen.
    »Sie kam durch … Sanja kam durch … Es kam der Frühling und mit ihm der Frieden. Die Behörden wollten, daß alle Waisenkinder von Flüchtlingen in Heime gegeben würden. Ich habe gekämpft. Ich war alter Genosse der KP, und da hat man eine Ausnahme gemacht. Ich durfte Sanja behalten. Wir hatten ja selbst keine Kinder. Aber das Gewissen meldete sich. Und da haben wir schließlich die Suchanzeigen über das Rote Kreuz aufgegeben. Wir erhielten keine Antwort. Von da an betrachteten wir Sanja als unsere Tochter. 1950 haben wir sie dann adoptiert.«
    Wolzcek erhob sich. Er ging zu einem der Bücherschränke, öffnete ein Schrankfach, nahm eine Flasche und zwei Gläser heraus. »Ich glaube, jetzt brauchen wir doch ein Schlückchen«, sagte er mit einem entschuldigenden Lächeln.
    Es war alter französischer Cognac; nur der Himmel wußte, wie der Professor daran gekommen war. Er schenkte ein, und die beiden Männer tranken schweigend.
    Sie hatten nicht auf die Zeit geachtet. Die Lichter brannten schon lange, und sie waren verloren in den Schatten der Vergangenheit.
    Plötzlich war das stille Haus von lauten Stimmen, von Lachen, von übermütigem Geplapper erfüllt.
    Die Tür wurde aufgestoßen, und ein junges Mädchen wirbelte herein, in weißem Sweater, einem dunkelblauen Faltenrock und hohen weißen Stiefeln.
    Sie blieb stehen, als sie den fremden Mann sah.
    Richard erhob sich langsam.
    »Sanja«, sagte Wolzcek, und seine Stimme war spröde vor verhaltener Erregung.
    Sabine. Richard hielt sich mit einer Hand an dem schmalen Tisch fest. Seine Knie zitterten.
    Seine Tochter. Groß, schlank, mit langen Beinen, das dunkelblonde Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden.
    Ihre großen blauen Augen blickten von Wolzcek zu Richard und wieder zurück.
    Sie fragte etwas auf polnisch, Richard verstand nichts. Ihre Stimme war dunkel, vibrierend.
    »Unser Gast spricht leider unsere Sprache nicht«, sagte Professor Wolzcek auf deutsch zu Sabine.
    »Oh, entschuldigen Sie.« Sabine trat näher. Neugierde war plötzlich in ihren Augen. »Sie sind aus Deutschland?« Und nach einem flüchtigen Blick auf Wolzcek: »Aus – dem Westen?«
    Richard nickte. Sagen konnte er nichts.
    »Der Westen!« Sabines Augen begannen zu leuchten. »Der Westen!« wiederholte sie noch einmal, als spräche sie vom Paradies.
    Wolzcek sah Richard an. In seinem Blick lag alles Elend dieser Welt.
    In seinem Blick las Richard: Hier ist sie. Hier ist meine Tochter Sanja,
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